GWB-Digitalisierungs­gesetz: Die wichtigsten Änderungen der 10. GWB-Novelle im Überblick

Fast ein Jahr nach Veröffentlichung des Referentenentwurfs  für ein „GWB-Digitalisierungsgesetz“ hat der Bundestag am 14. Januar 2021 den Gesetzentwurf der Bundesregierung beschlossen. Nach Zustimmung des Bundesrats und Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 18. Januar 2021 ist das novellierte GWB am heutigen Tage in Kraft getreten. Zielstellung der 10. GWB-Novelle ist zum einen die Anpassung der Missbrauchsaufsicht an ein zunehmend digitales Wettbewerbsgeschehen, zum anderen die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben der ECN+-Richtlinie EU 2019/1 im nationalen Recht. Ferner werden der Rechtsrahmen für den Kartellschadensersatz weiterentwickelt, die Umsatzschwellen für anmeldepflichtige Zusammenschlussvorhaben angehoben sowie die Rechtsschutzmöglichkeiten effektiver ausgestaltet. Im Folgenden stellen wir die wichtigsten Änderungen im GWB vor.

Missbrauchsaufsicht

Die Vorschriften der Missbrauchsaufsicht werden umfassend ergänzt, um den besonderen Herausforderungen der Digitalwirtschaft und Plattformökonomie gerecht zu werden. Auf diese Weise sollen Durchsetzungsdefizite des kartellbehördlichen Instrumentariums gegenüber neuen Geschäftsmodellen ausgeglichen werden, wie sie u. a. in der Facebook-Entscheidung des Bundeskartellamtes zutage getreten sind.

Im Einzelnen sind folgende Neuerungen hervorzuheben:

  • Zur Bestimmung einer marktbeherrschenden Stellung wird in § 18 Abs. 3 Nr. 2 GWB der „Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ als weiteres Bewertungskriterium ergänzt. Mit § 18 Abs. 3b GWB wird zudem ermöglicht, bei der Bestimmung der Marktstellung – unabhängig von Marktanteilen – die Rolle als Vermittler auf mehrseitigen Märkten zu berücksichtigen, insbesondere die damit verbundene Möglichkeit, den Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten zu kontrollieren.
  • In § 19 Abs. 1 GWB wird das missbräuchliche Verhalten nicht mehr als „missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung“, sondern als „Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung“ gefasst. Damit erfasst die Missbrauchsaufsicht nicht nur kausal auf Marktmacht zurückzuführendes missbräuchliches Verhalten. Erfasst wird vielmehr auch jedes andere Verhalten eines marktbeherrschenden Unternehmens, welches zu Marktergebnissen führt, die bei funktionierendem Wettbewerb nicht zu erwarten wären (sog. Ergebniskausalität). Das galt seit der 9. GWB-Novelle bereits für das „Anzapfverbot“ in § 19 Abs. 2 Nr. 5 GWB und war zwischenzeitlich vom Bundesgerichtshof auch für den Ausbeutungsmissbrauch im bereits genannten Facebook-Verfahren bestätigt worden (vgl. Beschluss vom 23. Juni 2020, KVR 69/19).
  • Der Verbotstatbestand der Zugangsverweigerung in § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB erfasst künftig – unter Ausweitung der „Essential-facility-doctrine“ – auch die Verweigerung des Zugangs zu „Daten“. Damit besteht für Unternehmen, die für ihr Geschäftsmodell auf Datensätze marktbeherrschender Unternehmen oder Plattformen angewiesen sind, ein gesetzlich vorgegebener Datenzugangsanspruch.
  • Mit § 19a GWB schafft der Gesetzgeber die mit Spannung erwartete neue Ermächtigungsgrundlage für das präventive Vorgehen gegen Digitalkonzerne im Bereich der Daten- und Plattformmärkte, bei denen das Bundeskartellamt vorab eine „überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb“ nach Abs. 1 positiv festgestellt hat. Diese Vorschrift soll ein schnelles Eingreifen im Fall von wettbewerbsgefährdenden Netzwerkeffekten, Datenvorteilen, damit verbundenen Selbstverstärkungseffekten und Konzentrationstendenzen ermöglichen und der Ausnutzung der Machtstellung im relevanten Markt sowie drohenden Beeinträchtigungen des Leistungswettbewerbs auf angrenzenden Märkten entgegenwirken. Die positive Feststellung der „Gatekeeper“-Funktion ist in ihrer Wirkung auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft der Feststellungsentscheidung befristet (§ 19a Abs. 1 S. 3 GWB). In § 19a Abs. 2 GWB sind sieben Missbrauchstatbestände mit konkretisierenden Regelbeispielen aufgeführt, die u.a. verhindern sollen, dass die Digitalkonzerne mit ihrer Machtstellung und ihren Ressourcen den Leistungswettbewerb auf weiteren Märkten beschränken.
  • Die Streichung des Begriffs „kleiner und mittlerer“ Unternehmen als Voraussetzung für einen Missbrauch bei relativer Marktmacht (§ 20 Abs. 1 GWB) trägt der Erkenntnis Rechnung, dass nicht nur der Mittelstand vor marktmächtigen Digitalkonzernen geschützt werden muss und eine Abhängigkeit ungeachtet der individuellen Unternehmensgröße bestehen kann.
  • Schließlich wird mit § 20 Abs. 1a GWB ein Datenzugangsanspruch im Bereich der relativen Marktmacht eingeführt und in § 20 Abs. 3a GWB ein neuer Eingriffstatbestand geschaffen, um das sog. „Tipping“ von Märkten frühzeitig verhindern zu können. Ein solches Kippen des Marktes – gemeint ist der Effekt, das sich ein Unternehmen mit überlegener Marktmacht aufgrund von Netzwerkeffekten leistungs- und wettbewerbskonform zum Monopolisten entwickelt – wird nicht generell verboten; missbräuchlich soll jedoch sein, wenn dahinter eine gezielte Behinderung von Wettbewerbern steht.

Fusionskontrolle

Um dem Bundeskartellamt eine angemessene Befassung mit den besonders relevanten Zusammenschlussvorhaben zu ermöglichen, im Übrigen Entlastung zu verschaffen, werden die Aufgreifschwellen angehoben und die Ausnahme für Bagatellmärkte wird erweitert. Zugleich wird das Hauptprüfverfahren von vier auf fünf Monate verlängert. Im Überblick:

  • Die beiden nationalen Inlandsumsatzschwellen werden gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 2 GWB von bisher EUR 25 Mio. und EUR 5 Mio. auf neuerdings EUR 50 Mio. und EUR 17,5 Mio. angehoben. Die Voraussetzung weltweiter gemeinsamer Umsatzerlöse aller Zusammenschlussbeteiligten von mehr als EUR 500 Mio. bleibt bestehen. Die Heraufsetzung der Inlandsumsatzschwellen zielt auf eine Entlastung des Mittelstandes und eine Fokussierung der kartellbehördlichen Tätigkeit auf komplexe Zusammenschlussverfahren.
  • Konsequenz der erhöhten Aufgreifschwellen ist der Wegfall der „Anschlussklausel“ (bislang § 35 Abs. 2 S. 1 GWB), mit der bisher Zusammenschlüsse unter Beteiligung eines kleinen Unternehmens mit Umsätzen von weltweit weniger als EUR 10 Mio. von der Anmeldepflicht ausgenommen waren, trotz erreichter Aufgreifschwellen im Übrigen.
  • Die Bagatellmarktklausel in § 36 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 GWB wird um EUR 5 Mio. auf insgesamt EUR 20 Mio. heraufgesetzt. Zugleich wird gesetzlich vorgeschrieben, dass die in mehreren vom Zusammenschlussvorhaben betroffenen Märkten erzielten Gesamtumsätze für diese Beurteilung zusammenzufassen sind. Damit findet die für bestimmte Fallkonstellationen entwickelte Anwendungspraxis einer gebündelten Betrachtung mehrerer Bagatellmärkte erstmals eine gesetzliche Grundlage.
  • Als Reaktion auf sukzessive Erwerbsstrategien in Regional- und Entsorgungsmärkten, bei denen die allgemeinen Umsatzschwellenwerte jeweils nicht erreicht worden sind, wird die Anmeldepflicht mit § 39a GWB um ein neues Aufgreifinstrument erweitert. Danach kann das Bundeskartellamt Unternehmen mit einem weltweiten Gesamtumsatz von mehr als EUR 500 Mio. eine generelle Anmeldepflicht für alle zukünftigen Erwerbsvorgänge in bestimmten Wirtschaftszweigen auferlegen. Eine solche Aufforderung zur Anmeldung gilt für drei Jahre ab Bestandskraft.
  • Ein im Gesetzgebungsverfahren teils geforderter spezieller Aufgreiftatbestand für den systematischen Aufkauf von Start-ups und wachstumsstarken Unternehmen (sog. „Killer Acquisitions“) ist hingegen nicht Bestandteil der GWB-Novelle. Auch die Ministererlaubnis ist unverändert geblieben.

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Kartellschadensersatz

  • In § 33a Abs. 2 S. 4 GWB wird eine widerlegliche Vermutung bezüglich der Kartellbetroffenheit unmittelbarer Lieferanten und Abnehmer eines Kartells bei Rechtsgeschäften mit kartellbeteiligten Unternehmen ergänzt. Damit übernimmt der Gesetzgeber einen Ansatz, der vom Bundesgerichtshof bereits vorgezeichnet worden war (vgl. Entscheidung „Schienenkartell I“ vom 11. Dezember 2018 (AZ.: KZR 26/17). Mit der (widerleglichen) Vermutung soll der Nachweis der Kartellbefangenheit für Kläger erleichtert werden.
  • Der neue § 33c Abs. 3 S. 2 GWB erstreckt die Vermutungswirkung auch auf mittelbare Abnehmer für den Fall der Weiterwälzung eines Preisaufschlages (sog. „Passing-on“). Eine bestimmte (Mindest-)Höhe für Kartellschäden wird – anders als in der Rechtsprechung teils gefordert – weiterhin nicht vermutet. Die Gesetzesbegründung stellt zudem ausdrücklich klar, dass die Vermutungsregelung Preisschirmeffekte nicht erfasst.

Effektiverer und schneller Rechtsschutz

  • Ebenfalls mit Blick auf einen effektiven Rechtsschutz gegenüber marktmächtigen Unternehmen, zumal in schnelllebigen digitalen Märkten, wird das Instrumentarium des einstweiligen Rechtsschutzes auf kartellbehördlicher Ebene gestärkt und vereinfacht. Beispielsweise soll der essentielle Zugang zu Schnittstellen oder anderen unerlässlichen Einrichtungen auch unter temporärer Vorwegnahme der Hauptsache möglich sein. Die hohe Hürde des Nachweises eines irreparablen Schadens für den Wettbewerbsprozess wird auf eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ der Zuwiderhandlung in § 32a Abs. 1 GWB abgesenkt. Erforderlich ist allerdings der Nachweis einer unmittelbar drohenden, schwerwiegenden Beeinträchtigung.
  • Gemäß § 73 Abs. 5 GWB ist der Bundesgerichtshof nun erstinstanzlich zuständig für sämtliche Streitigkeiten gegen Verfügungen des Bundeskartellamts nach § 19a GWB. Dahinter steht die Erwägung, dass sich die kartellrechtlichen Problemlagen in schnelllebigen digitalen Plattformmärkten nach langwierigen Verfahren über den Instanzenzug oft nicht mehr adäquat beheben lassen. Nach § 75 Abs. 5 GWB kann der Bundesgerichtshof in diesen Verfahren ökonomische Stellungnahmen der Monopolkommission einholen.

Weitere verfahrensrechtliche Neuerungen

  • Um die Rechtssicherheit im Bereich der Zusammenarbeit von Unternehmen im Rahmen horizontaler Kooperationsvereinbarungen zu steigern, eröffnet § 32c Abs. 2-4 GWB als Ausnahme vom Grundsatz der kartellrechtlichen Selbsteinschätzung die Möglichkeit eines sog. „Vorsitzendenschreibens“. Sofern ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse besteht, haben Unternehmen künftig einen Anspruch auf eine Entscheidung des Bundeskartellamts innerhalb von sechs Monaten, gerichtet auf die Feststellung, dass kein Anlass zum Tätigwerden besteht.
  • Raumgreifend aber weniger revolutionär fällt die übrige Umsetzung der ECN+-Richtlinie (EU) 2019/1 in den §§ 48 ff. GWB aus. Die ECN+-Richtlinie regelt das behördliche Verfahrensrecht für die einzelnen Mitgliedstaaten und orientiert sich dabei im Wesentlichen an den Inhalten der Verordnung (EG) 1/2003 als den maßgeblichen Verfahrensregeln für die Europäische Kommission.

Anerkennung präventiver Compliance-Maßnahmen bei der Bußgeldbemessung

In den bußgeldrechtlichen Vorschriften ist Maßnahmen der kartellrechtlichen Compliance eine besondere Bedeutung eingeräumt worden (§ 81d Abs. 1 S. 2 Nr. 4 GWB). Die Vorschrift ermöglicht eine Berücksichtigung der im Vorfeld der Zuwiderhandlung getroffenen, angemessenen und wirksamen Compliance-Vorkehrungen zur Vermeidung und Aufdeckung von Zuwiderhandlungen im Rahmen der Bußgeldzumessung. Mit dieser Sanktionsmilderung unterstreicht der Gesetzgeber den Stellenwert effektiver unternehmensinterner Compliance-Maßnahmen.

Bewertung und Ausblick

Insbesondere im Bereich der Missbrauchsaufsicht beschreitet das GWB-Digitalisierungsgesetz neue, durch Entscheidungspraxis und Rechtsprechung allerdings auch vorgezeichnete Wege, um den Anschluss an das digitale Zeitalter nicht zu verpassen. Während der Gesetzgebungsprozess zur Plattform-Regulierung auf Unionsebene noch in vollem Gange ist, schafft der nationale Gesetzgeber mit § 19a GWB ein erstes mitgliedstaatliches Aufsichtsinstrument. Mit Spannung lässt sich den ersten Anwendungsfällen und auch dem Zusammenspiel mit der Rechtsschutzkonzentration beim Bundesgerichtshof entgegenblicken.

Weitergehende Regelungen oder Querbezüge zum UWG und zum behördlichen Verbraucherschutz sucht man – ungeachtet der mit der 9. GWB-Novelle dem Bundeskartellamt zugewiesenen Aufgaben – in der GWB-Novelle hingegen vergebens (mit Ausnahme der erstmaligen Nennung des „Leistungswettbewerbs“ im GWB in § 20 Abs. 3a GWB).

Die Berücksichtigung angemessener Compliance-Vorkehrungen als positives Vortatverhalten bei der Bußgeldzumessung ist uneingeschränkt zu begrüßen. Die großen Anstrengungen vieler Unternehmen im Bereich kartellrechtlicher Prävention durch effiziente Compliance-Maßnahmen finden damit angemessen Berücksichtigung.

Das Kartellrechtsteam von Raue steht Ihnen für Rückfragen zum novellierten GWB gerne zur Verfügung.

(19. Januar 2021)