Musterfeststel­lungsklage und EU-Verbandsklage bei Kartellschäden?

Anders als etwa in den USA existierte in Deutschland kein allgemeines prozessuales Institut, um Ansprüche identisch Geschädigter gebündelt durchzusetzen. Kollektiver Rechtsschutz war dem deutschen Zivilprozessrecht weitgehend fremd. Abgesehen von einer Ausnahme bei Kapitalanlagen, war nur die Verbands- oder Verbraucherklage möglich. Diese unterscheidet sich von Sammelklagen US-amerikanischer Prägung wesentlich: Die Klage können nur bestimmte Verbände und Verbraucherzentralen im Rahmen ihres Aufgabenbereichs erheben. Dies war zudem meist nur für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche möglich. Lediglich Verbraucherverbände konnten per „Einziehungsklage“ Zahlungsklage für Verbraucher erheben; sie handeln hierbei aber als Prozessvertreter, es bleibt zunächst beim Individualprozess.

Eine gebündelte Rechtsdurchsetzung ist indes nicht nur prozessökonomisch sinnvoll, sondern oft der einzig finanzierbare Weg für die Geschädigten. Dies gilt gerade bei Kartellschäden: Ohne kollektive Klagemöglichkeit müsste jeder Geschädigte für sich den jeweiligen Streuschaden einklagen. Der Aufwand der Rechtsverfolgung erscheint dabei nicht nur Verbrauchern sehr oft unverhältnismäßig („rationales Desinteresse“). Das deutsche Prozessrecht kennt zwar die Streitgenossenschaft, in der mehrere Geschädigte gemeinsam klagen können. Aber das hilft in der Praxis wenig: Das Gericht kann für jeden Streitgenossen unterschiedlich urteilen, trotz möglicher Kostenteilung besteht weiterhin ein erhebliches Kostenrisiko. Bisweilen trennt das Gericht die Verfahren sogar ab. David kämpft gegen Goliath.

Daher hatte sich die prozessuale Praxis etabliert, dass Geschädigte ihre Ansprüche auf ein Klagevehikel übertragen, das die Ansprüche für sie einklagt. Zuweilen wird das Klagevehikel dabei von einem Prozessfinanzierer unterstützt. Durch die Bündelung der Ansprüche wird eine kritische Masse erreicht, die eine wirtschaftlich sinnvolle Rechtsdurchsetzung unter Einbindung qualifizierter ökonomischer Gutachter und Prozessvertreter ermöglicht. Die Geschädigten, der Beklagte und die Prozessvertreter begegnen sich nun auf Augenhöhe. Dies hat allerdings bisweilen seinen Preis: Klagevehikel bzw. Prozessfinanzierer sichern sich teilweise einen beträchtlichen Teil der erstrittenen Summe.

Musterfeststellungsklage und EU-Verbandsklage

Zum 1. November 2018 hat der Bundestag – ungewohnt schnell – die Einführung der Musterfeststellungsklage beschlossen. Sie bietet nun eine (eingeschränkte) Alternative zum beschriebenen Abtretungsmodell. Auch hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine Sammelklage US-amerikanischer Prägung, sondern ebenfalls um eine Verbandsklage. Unmittelbar nach deren Einführung hat der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) zusammen mit dem ADAC eine Musterfeststellungsklage zum VW-Abgasskandal eingereicht. Anfang Januar 2019, also innerhalb von zwei Monaten, hatten sich ihr beinahe 400.000 Verbraucher angeschlossen. Das überraschte sogar den vzbv. Das wohl bekannteste Klagevehikel hat während eines viel längeren Zeitraums demgegenüber nur Ansprüche von rund 40.000 Verbraucher gesammelt. Dies zeigt: Die Musterfeststellungsklage erscheint Verbrauchern offenbar sehr attraktiv.

Im April 2018 hat auch die Europäische Kommission eine Richtlinie zur Einführung einer – von der deutschen Musterfeststellungsklage unabhängigen – kollektiven EU-Verbandsklage vorgeschlagen. Den Richtlinienvorschlag hat der Rechtsausschuss des EU-Parlaments Ende 2018 mit Änderungen angenommen. Vor der Europawahl ist mit einer Einführung aber nicht zu rechnen.

Für kartellgeschädigte Unternehmen würde sich nichts ändern

Attraktiv wären Musterfeststellungsklage und EU-Verbandsklage auch für Unternehmen. Die Musterfeststellungsklage nützt ihnen aber wenig: Nur Verbraucher können sich der Klage mittels Anspruchsanmeldung verjährungshemmend anschließen. Klagebefugt sind entsprechend nur die von der Europäischen Union zugelassenen Verbraucherverbände. Die im vorausgegangenen Referentenentwurf vorgesehene Klagebefugnis der Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern wurde wieder gestrichen. Kartellgeschädigte Unternehmen können also weiterhin nur die bisherigen prozessualen und prozessstrategischen Pfade beschreiten. Dies beschränkt die Bedeutung der neuen Klageform auch für das Kartellschadensersatzrecht erheblich. Nur in einem Punkt kann sich die Musterfeststellungsklage für Unternehmen positiv auswirken: Ein Gericht kann Parallelverfahren von Unternehmen aussetzen, bis über die verbraucherrechtliche Musterfeststellungsklage entschieden wurde. Echte Bindungswirkung entfaltet das Musterfeststellungsverfahren für sie aber nicht.

Auch der Anwendungsbereich der vorgeschlagenen EU-Verbandsklage beschränkt sich auf Unternehmer-Verbraucher-Verhältnisse. Im Gegensatz zur Musterfeststellungsklage wären Ansprüche auf Ersatz von Kartellschäden mit ihr ohnehin nicht durchsetzbar: Der Vorschlag bezieht sich nur auf Verstöße gegen bestimmte verbraucherschützende Richtlinien und Verordnungen. Das allgemeine Kartellrecht ist nicht darunter. Im verbleibenden Anwendungsbereich geht der EU-Vorschlag zugunsten der Verbraucher dann aber weit über die Musterfeststellungsklage hinaus: Das Gericht soll vorrangig nicht etwa nur anspruchsbegründende Tatsachen und Rechtsfragen feststellen, sondern echte „Abhilfe“ – Schadensersatz, Rücktritt, Minderung etc. – schaffen. Nur falls kollektive Abhilfe nicht zu erreichen ist, soll ein Feststellungsurteil ergehen.

Sowohl die Musterfeststellungsklage als auch die vorgeschlagene EU-Verbandsklage würden die Durchsetzung individueller Ansprüche also nur für Verbraucher vereinfachen. Diesen stünde – zumindest auf erster Stufe – ein alternativer Weg der Anspruchsdurchsetzung zur Verfügung, wenn ein befugter Verbraucherverband einen einschlägigen Muster- bzw. EU-Verbandsprozess anstrengt. Erleiden Verbraucher Kartellschäden, kann Musterfeststellungsklage grundsätzlich erhoben werden, die EU-Verbandsklage wäre dagegen nicht einschlägig.

Klagebefugnis auch für Wirtschaftsverbände sinnvoll?

Warum sieht das Musterfeststellungsverfahren keine Klagebefugnis für Wirtschaftsverbände – zumindest für Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern – (mehr) vor? Die Beschränkung auf Verbraucherverbände leuchtet nicht ohne weiteres ein. Auch und gerade Unternehmen sind vielfach (Kartell-)Opfer. Diese Einsicht lag wohl auch dem früheren Referentenentwurf zur Musterfeststellungsklage zugrunde. Auch die vormalige Empfehlung der Europäischen Kommission und die Entschließungen des Europäischen Parlaments zu unionsweiten Grundsätzen für kollektive Rechtsschutzverfahren sahen eine Eingrenzung auf den Verbraucherschutz nicht vor – die Empfehlungen erachteten kollektiven Rechtsschutz vielmehr ausdrücklich etwa im Bereich des Wettbewerbs für sinnvoll.

Wäre also etwas für kartellgeschädigte Unternehmen gewonnen, würde man den Anwendungsbereich auf B2B-Konstellationen ausweiten und neben Verbraucher- auch Wirtschaftsverbänden oder auch Ad-hoc-Verbänden eine Klagebefugnis einräumen? Dies hängt für das Kartellschadensersatzrecht von folgender Überlegung ab: Kartellschäden werden ganz überwiegend als Follow-on-Klagen geltend gemacht. In diesen Fällen hat die zuständige Kartellbehörde den Kartellverstoß bereits mit Bindungswirkung (§ 33b GWB) festgestellt. Die Bundesregierung war vor diesem Hintergrund der Auffassung, eine Musterfeststellungsklage sei für Kartellschadensersatzansprüche entbehrlich, da die Zivilgerichte ohnehin an die Feststellungen der Kartellbehörden gebunden seien. Dies überzeugt so pauschal nicht. Denn die Bindungswirkung reicht allenfalls so weit, wie die kartellbehördliche Entscheidung reicht. Die Kartellbehörden entscheiden allein über den Kartellverstoß. Für den Zivilprozess sind noch weitere Fragen von – entscheidender – Bedeutung, vor allem die sogenannte haftungsausfüllende Kausalität oder die Schadensberechnung. Diese Fragen berührt eine kartellbehördliche Entscheidung meist nur am Rande. An dieser Stelle könnte eine Musterfeststellungs- oder EU-Verbandsklage, angestrengt von einschlägigen Wirtschafts- oder Ad-hoc-Verbänden, auch für kartellgeschädigte Unternehmen durchaus von Interesse sein. Das letzte Wort in der rechtspolitischen Diskussion ist noch nicht gesprochen.

Eine detaillierte Analyse der Fragen findet sich in der Neuen Zeitschrift für Kartellrecht (NZKart), S. 398 ff.

(25. April 2018, aktualisiert am 8. Januar 2019)