Kartellrechtlicher Werkzeugkasten in Krisenzeiten

Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie führt zu erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Einschränkungen. Zugleich erleben die Markt- und Wettbewerbsverhältnisse in Deutschland und Europa sowie im internationalen Warenverkehr eine Erschütterung in ungeahntem Ausmaß.

Viele Unternehmen sehen sich zur Zusammenarbeit und zum Austausch von Informationen, zur Abstimmung mit und zur Belieferung von Wettbewerbern und zu weiteren wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen veranlasst. Auch wenn es bei diesen Maßnahmen um den Schutz der Gesundheit und die Versorgung der Bevölkerung geht, fallen Beschränkungen des Wettbewerbs in den Anwendungsbereich des Kartellverbots. Perspektivisch werden der Abbau von Überkapazitäten sowie damit verbundene Absprachen zwischen Wettbewerbern und Sanierungsfusionen an Relevanz gewinnen. Krisenbedingte Abhängigkeiten und einseitige missbräuchliche Geschäftspraktiken lösen ein Bedürfnis nach Verbraucherschutz und kartellrechtlicher Missbrauchsaufsicht aus.

Vor diesem Hintergrund skizzieren wir nachfolgend die auch weiterhin kartellrechtlich begrenzten Handlungsspielräume, zeigen die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbern auf und ermutigen zu einem beherzten Handeln in diesen schwierigen Zeiten.

Kartellrecht bleibt anwendbar

Auch in Krisenzeiten finden die kartellrechtlichen Vorschriften als Rahmen für die effiziente Marktwirtschaft Anwendung. Mit einem Sonderkartellrecht oder umfassenden Bereichsausnahmen ist derzeit nicht zu rechnen. Somit bleiben wettbewerbsbeschränkende Preisabsprachen und Kooperationen zwischen Wettbewerbern sowie missbräuchliche Verhaltensweisen gegenüber Wettbewerbern verboten.

Allerdings haben die europäischen Wettbewerbsbehörden des European Competition Network (ECN) in einer gemeinsamen Stellungnahme vom 23. März 2020 ihr Entgegenkommen bei der Beurteilung im Einzelfall angekündigt. Die Wettbewerbsregeln sind aus Sicht der Kartellbehörden flexibel genug, um veränderte Marktgegebenheiten zu berücksichtigen.

Ein Freibrief für Wettbewerbsverstöße ist darin gleichwohl nicht zu sehen. So hat die Wettbewerbskommissarin Margarethe Vestager erst kürzlich auf einer Veranstaltung betont, dass die Krise „keinen Schutzschild“ gegenüber effektiver Kartellrechtsdurchsetzung biete. Die Wettbewerbsbehörden werden daher konsequent gegen solche Unternehmen vorgehen, die in wettbewerbswidriger Weise aus der Krise Profit ziehen wollen. Entsprechend haben die Wettbewerbsbehörden im Vereinigten Königreich und Polen spezielle Task-Forces zur Überwachung der Preise für Lebensmittel, Arzneimittel und Hygiene-Produkte eingerichtet und in Griechenland und Italien bereits erste Ermittlungen aufgenommen.

Gesteigertes Bedürfnis für Kooperationen und Informationsaustausch zwischen Wettbewerbern

Zur Bewältigung der Krise –insbesondere bei der Versorgung und Verteilung lebenswichtiger Güter und Waren – sind Unternehmen zunehmend auf Absprachen, einen Austausch von Informationen und eine Koordinierung ihres Verhaltens angewiesen. Als Anwendungsfälle zu nennen sind insbesondere:

  • Zusammenarbeit von Wettberbern in der Lebensmittel-, Drogerieartikel-, Schutzbekleidungs- und Arzneimittelindustrie hinsichtlich Beschaffung, Logistik und Lagerhaltung sowie Vertrieb;
  • Informationsaustausch zu wettbewerbsrelevanten Parametern (einschließlich Mengen, Preisen und Lieferanten bzw. Kunden) zur Beseitigung von Engpässen in den Lieferketten und Lieferausfällen dringend benötigter Güter;
  • „Strukturkrisenkartelle“, d. h. Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern zum Umgang mit und zum Abbau von strukturellen Überkapazitäten (z. B. im Hotel-, Reise- und Transportsektor);
  • Vereinbarungen und Kooperationen im Bereich Forschung und Entwicklung, etwa zur Entwicklung eines gemeinsamen Impfstoffes gegen das Covid-19-Virus.

Kartellverbot als Maßstab

Ausgangspunkt der kartellrechtlichen Bewertung ist das Kartellverbot (§ 1 GWB, Art. 101 AEUV). Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sind, vorbehaltlich einer Rechtfertigung (dazu sogleich), auch in Krisenzeiten verboten. Allein das Bemühen um Allgemeinwohlziele (Gesundheitsschutz, Sicherstellung der Versorgung o. ä.) lässt eine tatbestandliche Wettbewerbsbeschränkung nicht entfallen. Außerökonomisch Zielsetzungen bleiben bei der Frage, ob der Wettbewerb beschränkt wird, grundsätzlich unberücksichtigt – eine Güterabwägung findet im europäischen und deutschen Kartellrecht nicht statt.

Flexible Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten

Allerdings eröffnet der kartellrechtliche Prüfungsmaßstab weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten, über die eine Wettbewerbsbeschränkung gerechtfertigt werden kann (§ 2 GWB, Art. 101 (3) AEUV und Gruppenfreistellungsverordnungen). Macht eine wettbewerbsbeschränkende Absprache oder eine Kooperation zwischen Wettbewerbern z. B. eine effiziente Versorgung der Bevölkerung durch eine verbesserte Warenverteilung erst möglich, dürften regelmäßig berücksichtigungsfähige, die Wettbewerbsbeschränkung ausgleichende Effizienzvorteile vorliegen. Solche Maßnahmen sind durch das Gesetz vom Kartellverbot freigestellt und können unmittelbar umgesetzt werden. Auch Absprachen zur Rationalisierung oder zum Abbau struktureller Überkapazitäten in einem Markt können als sog. „Strukturkrisenkartelle“ freistellungsfähig sein. Ein koordinierter und planmäßiger Kapazitätsabbau unter Beteiligung der gesamten Branche kommt in Krisenzeiten bei erheblichen Nutzungseinschränkungen und Verlusten über einen längeren Zeitraum in Betracht. Für alle Maßnahmen ermöglicht eine Einzelfallbetrachtung, der Dynamik des Geschehens und der Unvorhersehbarkeit der weiteren Entwicklung angemessen Rechnung zu tragen.

Gegenüber dringend notwendigen und temporären Maßnahmen werden sich die Kartellbehörden zudem im Rahmen ihres Aufgreifermessens in Zurückhaltung üben. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Wettbewerbsbehörden Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, die mit der Covid-19-Pandemie begründet werden, genau prüfen werden, um sicherzustellen, dass die Krise nicht lediglich als Vorwand für illegale Absprachen genutzt wird.

Missbräuchlich überhöhte Preise und Missbrauchsaufsicht der Kartellbehörden

Die teils signifikant in die Höhe geschossenen Preise für Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken auf Online-Plattformen verdeutlichen die Relevanz des Missbrauchsverbotes (§§ 19, 20 GWB, Art. 102 AEUV). Die kartellrechtliche Preishöhenkontrolle verbietet marktmächtigen Unternehmen das Fordern erheblich über dem Marktniveau liegender Entgelte und Konditionen.

In diesem Zusammenhang ist auf die  grundsätzliche Zulässigkeit der Vorgabe von Höchstpreisen durch Hersteller gegenüber Händlern, von Großhändlern gegenüber Einzelhändlern hinzuweisen. Dadurch könnten Hersteller dringend benötigter Hygieneprodukte oder Arzneimittel Preisexzessen auf der nachgelagerten Vertriebsstufe vorbeugen. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass diese Vertikalvereinbarungen keine verbotenen Kernbeschränkungen enthalten (z.B. eine Preisbindung zweiter Hand, d. h. verbindliche Vorgaben für die Preise, zu denen die Produkte an die Endkunden weiterverkauft werden dürfen).

Darüber hinaus können im Laufe der Krise auch erstmalig Abhängigkeiten entstehen, die eine Beurteilung nach Maßgabe des Missbrauchs- und Diskriminierungsverbots erforderlich machen. Der Abbruch von Lieferbeziehungen, die Verweigerung der Belieferung mit bestimmten Waren oder gar die Kündigung bestehender Verträge können sich dann als missbräuchlich erweisen, wenn sie für das andere Unternehmen existenzgefährdend sein sollten.

Sanierungsfusionen

Im Bereich der Fusionskontrolle bietet sich beim Erwerb notleidender oder insolvenzbedrohter Unternehmen bzw. Unternehmensteile das Argument der sog. „Sanierungsfusion“ an, um eine Freigabe durch das Bundeskartellamt zu erreichen (failing company/division defence). Dahinter verbirgt sich der auch in Untersagungsfällen relevante Einwand fehlender Kausalität zwischen dem Zusammenschluss und der Verschlechterung der Marktstruktur. Denn wäre das sanierungsbedürftige Unternehmen als Wettbewerber alsbald aus dem Markt ausgeschieden und wären dessen Marktanteile ohnehin dem Erwerber zugefallen, so nimmt der Zusammenschluss lediglich den ohnehin absehbaren Zustand ohne Zusammenschluss vorweg. Das Bundeskartellamt geht unter drei kumulativen Voraussetzungen von einer Sanierungsfusion aus:

  • Das zu erwerbende Unternehmen würde aufgrund seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten ohne den Zusammenschluss zwingend und kurzfristig aus dem Markt ausscheiden;
  • es gibt keine wettbewerblich weniger schädliche Alternative;
  • die Marktposition des erworbenen Unternehmens würde auch ohne den Zusammenschluss im Wesentlichen dem Erwerber zufallen.

Institutioneller Rahmen und Verfahrensverzögerungen

Die Wettbewerbsbehörden bemühen sich schon heute um eine effiziente, den besonderen Herausforderungen Rechnung tragende Kartellrechtsdurchsetzung. Allerdings ist bereits absehbar, dass es auf institutioneller Ebene zu Verfahrensverzögerungen kommen wird. Entsprechend sollte die Zeitplanung bei Fusionskontrollanmeldungen angepasst werden. In Frankreich, Dänemark und Österreich haben die Kartellbehörden die Fristen u.a. bei Fusionskontrollverfahren bereits temporär ausgesetzt. Die Italienische Kartellbehörde gewährt Unternehmen einen Zahlungsaufschub für in Krisenzeiten fällige Kartellbußgelder.

Das Bundeskartellamt sieht seine Arbeitsfähigkeit derzeit sichergestellt. Um die Kommunikation in Zeiten von Kontaktverbot und Home-Office aufrechtzuerhalten, hat das Bundeskartellamt für jede Beschlussabteilung ein zentrales E-Mailpostfach eingerichtet. Dagegen können Besprechungen und Ermittlungsmaßnahmen angesichts der derzeitigen Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden.

Auf Europäischer Ebene hat die Kommission eine spezielle Themenseite zur Kartellrechtsanwendung in CORONA-Zeiten eingerichtet. Dort eröffnet sie für Unternehmen mit Kooperationsabsichten über ein separates E-Mailpostfach die Möglichkeit einer informellen Kontaktaufnahme und Beratung.

Bei den kartellgerichtlichen Verfahren wird derzeit weitgehend von Terminsaufhebungen und Terminverschiebungen Gebrauch gemacht, sodass sich ebenfalls Verfahrensverzögerungen abzeichnen.

Auch die Umsetzung der 10. GWB-Novelle dürfte sich angesichts der nun vorrangigen Krisenbewältigung verzögern.

Fazit

Unternehmen müssen sich auch in der aktuellen Corona-Krise an kartellrechtliche Vorgaben halten. Der kartellrechtliche Werkzeugkasten eröffnet jedoch zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten, um notwendige Kooperationen zur Versorgung der Bevölkerung, im Bereich der Forschung und Entwicklung oder durch Sanierungsfusionen notleidender Unternehmen zu ermöglichen. Eine sorgfältige Selbsteinschätzung sowie – falls angezeigt – ein frühzeitiger Kontakt mit den Wettbewerbsbehörden ist ratsam. Diese haben eine Berücksichtigung der derzeitigen Markt- und Wettbewerbsbedingungen signalisiert.

Das Kartellrechtsteam von Raue steht Ihnen für Rückfragen gerne zur Verfügung und wird Sie über die aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden halten.

(26. März 2020)