Flughafenentgelte: EuGH untersagt Individualverein­barungen mit Abweichungen von Entgeltordnung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 21. November 2019 sein Urteil im Vorabentscheidungsverfahren C-379/18 (Lufthansa ./. Land Berlin) verkündet. Darin hat er nicht nur das Anfechtungsrecht von Luftfahrtverkehrsunternehmen (LVU) gegen die Genehmigung einer Entgeltordnung begründet und insoweit eine Änderung der bisherigen deutschen Rechtsprechung angestoßen. Er hat zugleich auch Individualvereinbarungen über Flughafenentgelte, mit denen von den genehmigten Entgelten abgewichen wird, für unzulässig erklärt. Danach steht nicht nur in Frage, ob und inwieweit Flughafenbetreiber mit einzelnen Nutzern künftig noch wirksam Verträge mit Entgeltbezug, auch über Förderungen der Verkehrsentwicklung am Flughafen, schließen können. Es ist darüber hinaus möglich, dass bereits geschlossene derartige Verträge rückwirkend hinfällig werden, d. h. statt vereinbarter ermäßigter die vollen genehmigten Entgelte verlangt, gezahlt und bereits gewährte Ermäßigungen oder Rückerstattungen ggf. von den LVU zurückgefordert werden müssen.

In der Begründung des Verbots von Individualvereinbarungen ist der EuGH über die in unserem früheren Beitrag kommentierten Schlussanträge des Generalanwalts noch hinausgegangen. Wie schon der Generalanwalt lässt auch der EuGH außer Acht, dass das Diskriminierungsverbot als zentrale Regelung der Flughafenentgeltrichtlinie nur auf tatsächlich marktbeherrschende Flughafenbetreiber Anwendung findet, die Richtlinie aber die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung nicht voraussetzt und diese auch nicht etwa für alle Flughäfen in ihrem Anwendungsbereich unterstellt. Der mit dem vom EuGH nun angenommenen Verbot von Individualverträgen verbundene Eingriff in die Vertragsfreiheit ist nur bei einem marktbeherrschenden Betreiber gerechtfertigt, der definitionsgemäß keinem wesentlichen Wettbewerbsdruck und insbesondere keiner Nachfragegegenmacht der Nutzer ausgesetzt ist. Das ist bei den erfassten Flughäfen weder grundsätzlich noch auf allen betroffenen Märkten oder gegenüber allen Nutzern der Fall, erst recht nicht bei allen Verkehrsflughäfen und Verkehrslandeplätzen, die der Genehmigungspflicht nach § 19b LuftVG unterliegen.

Den Hintergrund des Rechtsstreits und unsere Kritik am Vorschlag des Generalanwalts haben wir bereits im früheren Beitrag dargestellt. Der Generalanwalt hatte das Verbot von Individualvereinbarungen „insbesondere“ mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Flughafenentgeltrichtlinie begründet. Die Vierte Kammer des EuGH stützt die Unzulässigkeit individueller Abweichungen von der Entgeltordnung nun nicht nur auf das Diskriminierungsverbot, sondern allgemein aufdie Grundsätze der Konsultation, der Transparenz und der Nichtdiskriminierung, wie sie sich aus Art. 3, Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie Art. 7 der Richtlinie 2009/12 ergeben“. Die vorgeschriebene Konsultation der Flughafennutzer „liefe leer“, wenn der Betreiber nach der Konsultation und Genehmigung „von der so ausgehandelten und sodann für gültig erklärten Entgeltregelung zugunsten eines bestimmten Flughafennutzers abweichen könnte“. Dabei stört sich der EuGH gerade am „vertraulichen Rahmen einer Vertragsverhandlung zwischen dem Flughafenleitungsorgan und einem einzelnen Flughafennutzer“.

Zusätzlich hebt der EuGH nun hervor, dass der Abschluss vertraulicher Individualverträge auch nicht als „Differenzierung“ der Flughafenentgelte, also im Rahmen der in Art. 3 Satz 2 Richtlinie geregelten Diskriminierungsverbot zulässig sei. Denn Satz 3 lasse eine solche Differenzierung nur nach objektiven und transparenten, also allgemeingültigen und allgemein bekannten Kriterien zu. Eine Differenzierung könne daher nur in der Entgeltordnung erfolgen. Dies betrifft etwa individuell vereinbarte Entgeltermäßigungen mit dem Ziel Lärmvermeidung (z.B. leiseres Fluggerät) oder Umweltschutz (z.B. Bio-Kraftstoffe), aber ggf. auch zur Verkehrsförderung am Flughafen, für die häufig das allgemeine Interesse an einer verbesserten Auslastung des Flughafens angeführt wird, weil diese im Interesse aller Nutzer liege.

Diese Auffassung des Gerichtshofs geht deutlich zu weit. Die den Betreibern in Art. 6 der Richtlinie auferlegte Konsultationspflicht und der Erlass einer Flughafenentgeltregelung, die sich an den Kosten der vom Flughafenbetreiber erbrachten Leistung orientiert und die Nutzer nicht ohne sachlichen Grund ungleich behandelt, sind für sich genommen verhältnismäßige, aber auch ausreichende Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit der Betreiber. Denn sie bewirken einen weitreichenden Schutz der Nutzer, insbesondere auch der kleinen Nutzer, die keine Verhandlungsmacht gegenüber dem Betreiber haben. Dadurch sind Preisüberhöhungen und Diskriminierungen kleinerer Nutzer untereinander effektiv ausgeschlossen. Dieser Schutz wird nicht dadurch entwertet, dass der Betreiber mit einzelnen Nutzern individuelle Vereinbarungen abschließen kann, mit dem Ziel, diese Nutzer zu einer verstärkten Nutzung der Flughafeneinrichtungen zu bewegen. Für diesen Schutz ist es aber nicht erforderlich, die unternehmerische Freiheit der Betreiber noch weiter dahingehend einzuschränken, dass Individualvereinbarungen über Entgelte per se verboten werden.

Der Gerichtshof übersieht dabei, dass der Zwang zur Kollektivverhandlung mit allen Nutzern, den er der Richtlinie entnimmt, einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatautonomie des Betreibers aus Art. 16 EU-Grundrechte-Charta („unternehmerische Freiheit“) und Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz darstellt, der nur gerechtfertigt sein kann, soweit es der Einschränkung einer wirtschaftlichen Vormachtstellung des Betreibers bedarf. Das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Satz 1 der Richtlinie ist schon nach dem Wortlaut („im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht“) eine Ausformung des in Art. 102 AEUV geregelten Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Aus der Bestimmung ergibt sich daher nicht, dass Flughafenbetreiber auch ohne Bestehen einer marktbeherrschenden Stellung zur Gleichbehandlung aller Nutzer verpflichtet ist.

In Randnummer 49 des Urteils erkennt der EuGH ausdrücklich an, dass Transparenzgrundsatz und Konsultationspflicht mit dem Diskriminierungsverbot „eng verbunden“ sind, nämlich der Überprüfbarkeit und Umsetzung der Gleichbehandlung dienen. Die Konsultation sei gerade vorgesehen, „um zu gewährleisten, dass, wie Art. 3 Satz 1 der Richtlinie 2009/12 in Verbindung mit deren elften Erwägungsgrund vorgibt, die Flughafenentgelte keine Diskriminierung zwischen den Flughafennutzern beinhalten“. Eben wegen dieser Verbindung kann der EuGH jedoch nicht überzeugend zu dem Schluss gelangen, dass der Richtlinie für alle Mitgliedstaaten mit Vorab-Entgeltgenehmigung ein Verbot abweichender Individualvereinbarungen zu entnehmen sei. Wenn die Geltung des Diskriminierungsverbots eine marktbeherrschende Stellung im Einzelfall voraussetzt und die Konsultation das Diskriminierungsverbot umsetzen soll, kann bei nicht marktbeherrschenden Betreibern auch mit der Konsultationspflicht kein Abweichungsverbot begründet werden.

Der EuGH selbst definiert in ständiger Rechtsprechung die marktbeherrschenden Stellung i.S.v. Art. 102 AEUV als „eine wirtschaftliche Machtstellung eines Unternehmens, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Konkurrenten, seinen Kunden und letztlich den Verbrauchern gegenüber in nennenswertem Umfang unabhängig zu verhalten“ (zuletzt EuGH, Urteil vom 6.12.2012, Rs. C‑457/10 P, Rn. 175 – AstraZeneca; ständige Rechtsprechung seit EuGH, Urteil vom 14.2.1978, Rs. 27/76, Rn. 63/66 – United Brands). Ein Marktbeherrscher ist also – ohne Regulierung – in seiner Preisgestaltung grundsätzlich frei; er könnte von Abnehmern unterschiedliche Preise verlangen und dadurch den Wettbewerb zwischen diesen auf nachgelagerten Märkten verzerren. Das Missbrauchsverbot in Art. 102 AEUV dient dazu, die Lücke zu schließen, die bei marktbeherrschenden Anbietern aufgrund des Fehlens einer wirksamen wettbewerblichen Verhaltenskontrolle besteht. Das kartellrechtliche Diskriminierungsverbot als Unterfall des Missbrauchsverbots soll Abnehmer im Verhältnis zueinander und den Wettbewerb im nachgelagerten Markt schützen. Das ist jedoch nur erforderlich und nur gerechtfertigt, soweit das betroffene Unternehmen marktbeherrschend ist. Nichts anderes folgt „im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht“ aus Art. 3 Satz 1 der Richtlinie.

Die insoweit zu pauschale Auslegung des EuGH droht die gängige Praxis der Aushandlung von Konditionen und Fördermaßnahmen in der Luftfahrtbranche massiv zu beeinträchtigen. Gerade in Deutschland betrifft die Entgeltgenehmigungspflicht, auf die sich das Urteil bezieht, nach § 19b Abs. 1 LuftVG alle Verkehrslandeplätze und -flughäfen jeder Größe. Die Richtlinie erfasst dagegen nach Art. 1 Abs. 2 nur Flughäfen ab 5 Mio. Passagieren/Jahr und den jeweils größten Flughafen eines Mitgliedstaats. Insoweit stellt sich die Frage, ob und inwieweit das Verbot von Individualvereinbarungen in Deutschland auch Klein- und Regionalflughäfen betrifft. Die deutschen Verwaltungsgerichte könnten dies – wenngleich weder sinnvoll noch geboten – im Rahmen einer einheitlichen Auslegung des § 19b LuftVG künftig bejahen.

Auch für größere Flughäfen bleibt fraglich, inwieweit Fördervereinbarungen mit einzelnen LVU auch weiterhin als zulässig angesehen und nach der Entscheidung des EuGH wirksam bleiben können. Grundsätzlich ungeklärt ist, wie der Bereich der (als „Entgelt“ definierten) Gegenleistung des Flughafennutzers für die Nutzung der Flughafeneinrichtungen, welcher der Entgeltordnung unterfällt, ein- und abzugrenzen ist gegenüber anderen Leistungen des Nutzers für den Flughafenbetreiber, für die die Entgeltordnung per se nicht gilt und die Vorgabe des EuGH damit nicht einschlägig ist. Der Betreiber kann auch seinerseits von einem Nutzer Leistungen beziehen und dafür Zahlungen leisten, ohne dass dies automatisch der regulierten Leistungsbeziehung zuzurechnen und als Abweichung vom genehmigten Entgelt anzusehen wäre.

(18. Dezember 2019)