Familienbande im Europäischen Kartellrecht – EuGH lässt Schwesterngesellschaften füreinander haften

Mit Urteil vom 6. Oktober 2021 (Sumal SL/Mercedes Benz Trucks España SL, Rs. C-882/19) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zur höchst umstrittenen Frage der kartellrechtlichen Haftung im Konzern Stellung bezogen: Gegenüber Geschädigten haften alle Konzernunternehmen, selbst wenn sie weder Adressaten einer kartellbehördlichen Entscheidung noch an Verstößen beteiligt waren, solange sie mit dem unmittelbaren Rechtsverletzter eine unternehmerische Einheit bilden.

Ein spanisches Zivilgericht hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob eine Schadensersatzklage im Nachgang zum LKW-Kartell (vgl. Pressemeldung der Europäischen Kommission) auch gegen ein spanisches Tochterunternehmen des kartellbeteiligten Daimler-Konzerns gerichtet werden könne. In der Kommissionsentscheidung war ein Verstoß des spanischen Unternehmens nicht festgestellt worden. Hinzu kam, dass nach spanischem Recht eine Konzernmutter zwar für die von ihr kontrollierten Tochterunternehmen haftet, eine weitergehende Konzernhaftung allerdings gerade nicht normiert ist.

Der EuGH führt aus, dass der unionsrechtliche Unternehmensbegriff nicht nur in kartellbehördlichen Verfahren, sondern auch in Zivilrechtsstreitigkeiten Geltung beanspruche. Sofern die in einem Konzern verbundenen Unternehmen funktional eine unternehmerische Einheit bildeten, hafte jedes Unternehmen innerhalb dieses Verbunds für Verstöße eines diesem Verbund ebenfalls angeschlossenen Unternehmens. Diese weitreichende Haftung erstrecke sich nicht nur auf die einen Rechtsverletzer kontrollierende Muttergesellschaft, sondern gerade auch auf andere von der Muttergesellschaft kontrollierte Unternehmen (Schwestergesellschaften). Eine solche Mithaftung sei jedenfalls so lange gerechtfertigt, wie die Tätigkeiten der in Anspruch genommenen und der rechtsverletzenden Gesellschaft dieselben Produkte betreffen. Der Effektivitätsgrundsatz des Europäischen Rechts ermögliche zwar keine Auslegung gegen den Wortlaut des spanischen Rechts. Da die nationale Vorschrift einer Inanspruchnahme der spanischen Gesellschaft allerdings entgegenstehe, könne sie nicht ohne Verstoß gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht zur Anwendung kommen. Die Inanspruchnahme der spanischen Tochtergesellschaft sei in diesem Fall auf die primärrechtlichen Vorschriften, hier das Kartellverbot (Art. 101 AEUV) zu stützen.

Das Urteil gibt die Maßstäbe für die Bestimmung der Passivlegitimation im Fall von Verstößen gegen Unionsrecht vor. Es hat damit erhebliche Bedeutung für die private Durchsetzung des Kartellrechts nicht nur in Spanien, sondern in allen Mitgliedstaaten. Nach deutschem Recht kann sowohl bei Verstößen gegen Art. 101 oder 102 AEUV als auch gegen deutsches Kartellrecht der – im Wortlaut – „Rechtsverletzer“ in Anspruch genommen werden (§ 33 Abs. 1 GWB). Umstritten war, ob dieser Begriff nur die an den Kartellrechtsverstößen unmittelbar beteiligte juristische Person oder das Unternehmen im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit bezeichnet. Die erstgenannte Meinung kann für sich in Anspruch nehmen, dass der Gesetzgeber gerade nicht den andernorts verwendeten Begriff „Unternehmen“ gewählt habe. Damit sei einer weiten, das Trennungsprinzip überwindenden Auslegung eine normative Absage erteilt worden. Im Licht des Urteils ist dieser Streit nun zugunsten der Gegenmeinung entschieden, die der am Wortlaut orientieren Auslegung den Unternehmensbegriff des Unionsrechts entgegengehalten hatte. Offen bleibt allein, ob die Haftung jedenfalls dann auf die rechtverletzende juristische Person begrenzt ist, wenn der Kartellrechtsverstoß ausschließlich in den Anwendungsbereich deutschen Rechts fällt.

Für die Praxis bringt das Urteil erhebliche Erleichterung u. a. bei der Wahl des Gerichtsstands, der Zustellung und Vollstreckung. Zugleich setzt der EuGH ein wichtiges Signal für die private Durchsetzung des Kartellrechts, die weder an konzernrechtlichen Strukturen noch nationalen Rechtsordnungen scheitern soll.

(16. November 2021)