BGH zum Kartell­schadensersatz: Schienenkartell V

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit seiner jüngsten Entscheidung zum Schienenkartell vom 23. September 2020 (Az.: KZR 4/19 – „Schienenkartell V“) wichtige Parameter der klägerischen Darlegungs- und Beweislast bei der gerichtlichen Geltendmachung von Kartellschadensersatz nachjustiert. Dies betrifft zum einen die zivilprozessuale Nachweisschwelle für die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, deren Überschreiten Voraussetzung für den Erlass eines Grundurteils ist. Zum andere zieht der BGH der Berücksichtigung einer Weitergabe kartellbedingter Preissteigerungen an die nächste Marktstufe als (schadensausschließender) Vorteilsausgleich eine Billigkeitsgrenze, wenn der Eintritt von Streuschaden Kartellbeteiligte letztlich davon entlasten würde, in Anspruch genommen zu werden.

Bisheriger Verfahrensgang

In der vom BGH im Ergebnis aufgehobenen Berufungsentscheidung hatte das OLG über einen Schadensersatzanspruch im Nachgang zu kartellbehördlich sanktionierten Preis-, Quoten- und Kundenabsprachen zu entscheiden. Die Klägerin hatte von einem der am „Schienenkartell“ beteiligten Hersteller Gleisoberbaumaterialien im Zeitraum der verbotenen Absprachen erworben.

In erster Instanz hatte das Landgericht Düsseldorf der Klägerin, einem öffentlichen Nahverkehrsunternehmen, Schadensersatz und Sachverständigenkosten dem Grunde nach zugesprochen. Das mit der Berufung angegriffene Grundurteil stützte sich auf einen Anscheinsbeweis der Kartellbetroffenheit und schloss bereits von dieser auf die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung der Klägerin.

Das OLG Düsseldorf bestätigte die Entscheidung mit Urteil vom 23. Januar 2019 (Az.: U (Kart) 19/17) und ließ die Revision nicht zu. Für die Annahme eines Schadens stützte es sich explizit auf eine tatsächliche Vermutung, nach der ein Kartellrechtsverstoß bei kartellbefangenen Geschäften auch zu einem Schaden der Anspruchsteller auf der Marktgegenseite führe. Den Einwand der Vorteilsanrechnung wegen einer Abwälzung des Schadens auf die Fahrgäste hatte das OLG Düsseldorf abgelehnt, weil die Beklagten nicht plausibel vorgetragen haben, dass eine Abwälzung in Betracht komme.

Kernaussagen der BGH-Entscheidung

Der BGH hat das Urteil des OLG Düsseldorfs aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer zurückverwiesen.

Insbesondere tritt der BGH der durch das OLG Düsseldorf geübten Kritik an seiner Grundsatzentscheidung „Schienenkartell I“ entgegen. Aus der Kartellbetroffenheit eines Geschäfts folge – anders als vom Berufungsgericht vertreten – keine widerlegliche tatsächliche Vermutung für die Wahrscheinlichkeit eines Schadens, die den Erlass eines Grundurteils rechtfertigen könne; vielmehr sei die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Indizien zu bestimmen, die für und gegen das Entstehen eines Schadens vorgetragen worden seien.

Des Weiteren präzisiert der BGH das Verhältnis zwischen Vorteilsausgleich und Effektivität des Private Enforcements, wobei der Einwand einer Schadensabwälzung („Passing-on Defense”) im Fall der letztlich die Fahrgäste belastenden „Streuschäden“ nicht aus tatsächlichen, sondern aus normativen Gründen ausscheide.

  • Die der Berufungsentscheidung zu Grunde liegende (widerlegliche) Vermutung einer wahrscheinlichen Schädigung durch den Abschluss kartellbetroffener Geschäfte stehe mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang. Zwar lasse das Kartell tatsächlich vermuten, dass die unter Kartelleinfluss erzielten Preise grundsätzlich höher als unter unverfälschten Wettbewerbsbedingungen seien. Diese tatsächliche Vermutung gewinne mit Dauer und Wirkung des Kartells auch an Gewicht, rechtfertige allerdings gleichwohl keine Beweislastumkehr. Die Kartellbeteiligte müssten demnach nicht beweisen, dass gar kein Schaden entstanden sei, sondern vielmehr gegen die Schadensentstehung sprechende Indizien vortragen. Das Tatsachengericht habe dann im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung sämtliche für und gegen die Schadensentstehung sprechenden Indizien nach § 287 Abs. 1 ZPO hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts zu würdigen.
  • Um sich mit der Weitergabe kartellbedingter Preiserhöhungen an die nächste Marktstufe gegen eine Inanspruchnahme zu verteidigen, müsse der Beklagte anhand greifbarer Anhaltspunkte (insbesondere der Marktverhältnisse) plausibel darlegen, dass eine Abwälzung des Schadens ernsthaft in Betracht kommt. Den Maßstab hierfür bildet § 287 ZPO, der lediglich eine Wahrscheinlichkeitsbetrachtung fordert. Eine sekundäre Darlegungslast des unmittelbar Geschädigten komme nur ausnahmsweise in Betracht. Jedoch begrenze der Präventionszweck des Kartellschadensersatzes die Vorteilsanrechnung. Der Einwand der Schadensabwälzung entlaste die Kartellbeteiligten insbesondere dann unbillig, wenn die mittelbar Geschädigten selbst keine Anreize hätten, ihre Ansprüche zu verfolgen. Etwa in Fällen geringfügiger Streuschäden – konkret das Massengeschäft des Personennahverkehrs – könne das Verbot der unbilligen Entlastung des unmittelbar Geschädigten zurücktreten.

Auswirkungen auf die zukünftige Rechtsprechung

Mit seinen Ausführungen hält der BGH die Instanzgerichte weiter zu einer umfassenden Gesamtwürdigung des Streitstoffs an. Bei der Schadensfeststellung ist dem Einfluss aller Marktfaktoren und ggf. ökonomischen, hinreichend belastbaren Privatgutachten besonderes Augenmerk zu schenken. Der Schaden ist durch den Anspruchsteller zu beweisen, auch wenn ihm weitreichende Erfahrungssätze bei der Anspruchsdurchsetzung helfen können.

Für eine auf eine Schadensabwälzung gestützte Verteidigung gilt, dass der BGH der Berücksichtigung als Vorteilsausgleich jedenfalls bei Streuschäden im Interesse der effektiven Rechtsdurchsetzung eine Grenze setzt. Kartellbeteiligte werden sich erfolgreich nur dann mit einer Weitergabe von Schäden verteidigen können, wenn mittelbar Geschädigte ihre Ansprüche zumindest verfolgen könnten und auch hinreichend Anreize dazu haben.

(19. Januar 2021)