Arcandor-Insolvenz: OLG Hamm verurteilt ehemalige Aufsichtsräte zu Schadensersatz

Urteil des Oberlandesgerichts Hamm

Die Insolvenz der Arcandor AG (in Liquidation; ehemals KarstadtQuelle AG) zieht immer noch weite Kreise – von ihrem Beginn im Jahr 2009 bis in das Jahr 2022. Als Berufungsinstanz sprach das OLG Hamm nun dem klagenden Insolvenzverwalter der Arcandor AG Schadensersatzansprüche gegen sechs ehemalige Aufsichtsratsmitglieder in Höhe von insgesamt EUR 53.625.150,18 zu.

Ursprünglich hatte der Insolvenzverwalter im Jahr 2012 ehemalige Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats der Arcandor AG auf Schadensersatz in Millionenhöhe vor dem LG Essen wegen verschiedener Pflichtverletzungen in Anspruch genommen. Während das LG Essen vier ehemaligen Vorstandsmitglieder, unter ihnen der ehemalige Vorstandsvorsitzende Thomas Middelhoff, in einem Grundurteil zum Schadensersatz verurteilte, wies es die Klage gegen die ehemaligen Aufsichtsratsmitglieder ab. Den ehemaligen Vorstandsmitgliedern waren Pflichtverletzungen im Vorfeld der Insolvenz vorgeworfen worden. Den Aufsichtsratsmitgliedern war unter anderem vorgeworfen worden, die sich daraus gegen die Vorstandsmitglieder ergebenden Schadensersatzansprüche nicht pflichtgemäß verfolgt zu haben.

Nach Auffassung des LG hatten die ehemaligen Aufsichtsratsmitglieder in der damaligen Situation die Anforderungen, die der Bundesgerichtshof (BGH) an den Aufsichtsrat bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder in seiner „ARAG/Garmenbeck“-Doktrin (BGH, Urteil vom 21. April 1997 – II ZR 175/95) gestellt hat, erfüllt.

Nach der „ARAG/Garmenbeck“-Doktrin hat der Aufsichtsrat bei der Verfolgung etwaiger Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder eine Prüfung in zwei Schritten vorzunehmen: 1. Der Aufsichtsrat muss, gegebenenfalls mit Hilfe juristischer Berater, prüfen, ob die etwaigen Schadensersatzansprüche tatsächlich bestehen und ob sie auch durchsetzbar sind. 2. Der Aufsichtsrat muss ausgehend vom Unternehmenswohl in einer (Gesamt-)Abwägung prüfen, ob die Ansprüche auch verfolgt werden sollen.

Das LG Essen hatte den beklagten Aufsichtsratsmitgliedern zugestanden, dass diese sich bei ihrer Entscheidung, die etwaigen Schadensersatzansprüche nicht zu verfolgen, unter anderem auf eingeholte Experten-Gutachten stützen konnten, die bestätigten, dass eine Anspruchsverfolgung dem Unternehmenswohl erheblichen Schaden hätte beifügen können.

Dagegen richteten sich unter anderem die Berufungen des Insolvenzverwalters und des bereits in der ersten Instanz als Streithelfer auftretenden D&O-Versicherer. Dem ist das OLG Hamm nun weitgehend gefolgt: Die ehemaligen Aufsichtsratsmitglieder handelten danach pflichtwidrig, als sie im November 2006 entschieden, von der Geltendmachung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Vorstandsmitglieder abzusehen, obwohl kurze Zeit später der Verjährungseintritt dieser Ansprüche drohte.

Die Entscheidung des OLG Hamm

Entgegen der Vorinstanz führt das OLG Hamm aus, dass die beklagten Aufsichtsräte die Anforderungen der „ARAG/Garmenbeck“-Doktrin des BGH nicht erfüllt hätten.

Bei der Frage der Realisierbarkeit (1. Stufe) von Schadensersatzansprüchen seien nicht nur das Privatvermögen der pflichtwidrig handelnden Vorstände, sondern auch eine gegebenenfalls zur Verfügung stehende (D&O-)Versicherungssumme zu berücksichtigen. Zudem habe die gebotene Gesamtabwägung der Anspruchsverfolgung (2. Stufe), bei der Nachteile für das Unternehmenswohl der Gesellschaft zu berücksichtigen sind, „nicht in einer dem strengen rechtlichen Maßstab genügenden Art und Weise stattgefunden.“

Die etwaig gewichtigen Belange des Unternehmenswohls müssten mindestens das gleiche Gewicht haben wie diejenigen Umstände, die für die Inanspruchnahme der Vorstände sprächen. Das OLG Hamm betont unter anderem, dass der Eintritt damals befürchteter Beeinträchtigungen der Geschäfts-, Kredit- und Kundenbeziehungen nicht mit Sicherheit festgestellt werden könnten. Zwar berge die Verfolgung von (gravierenden) Managementfehlern in der Öffentlichkeit durchaus Risiken. Allerdings könne eine entschlossene Aufdeckung und Verfolgung von Missständen im Unternehmen auch gerade vertrauensfördernd sein.

Die Gesamtabwägung der Interessen habe nur unvollständig stattgefunden, maßgebliche Kriterien seien nicht zutreffend herangezogen worden. Außerdem moniert das OLG Hamm quasi nebenbei, dass aus den Sitzungsprotokollen des Aufsichtsrats nicht ersichtlich sei, dass die erforderliche Gesamtabwägung überhaupt stattgefunden habe. Im Ergebnis gerät die (unzureichende) Protokollierung den Aufsichtsräten zwar nicht zum Nachteil, weil andere Umstände dafür sprächen, dass die Abwägung in einem gewissen Maß stattgefunden habe. Dies zeigt dennoch eindrücklich, wie wertvoll ausführliche und korrekte Protokollführung sein können.

Bemerkenswert: Das OLG Hamm stellt fest, dass die maßgebliche Pflichtverletzung der Aufsichtsräte darin liege, dass sie aufgrund unzureichender sachkundiger Beratung ohne tragfähige Grundlage von einer (zu) niedrigen Realisierbarkeit der Schadensersatzansprüche gegen die Vorstände ausgegangen seien – weil die Versicherungssumme als zur Verfügung stehender „Kompensationstopf“ fälschlicherweise nicht berücksichtig wurde.

Das OLG Hamm hat die Revision zum BGH gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Die Parteien können jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH erheben.

Die differenzierte Haftung der beklagten Aufsichtsräte (zwei haften für die Gesamthöhe von EUR 53.625.150,18, die übrigen vier „nur“ in Höhe von EUR 100.000,00) hat ihren Grund in der ursprünglichen Klage des Insolvenzverwalters:. Dieser hatte die Klage bei den entsprechenden Aufsichtsräten auf den „geringeren“ Teilbetrag beschränkt, weil er bei ihnen nur ein geringes Verschulden sah.

Auswirkungen auf die Haftung von Aufsichtsräten

Die mit Spannung erwartete Entscheidung des OLG Hamm setzt einen vorläufigen Schlusspunkt in der Arcandor-Insolvenz. Sie rückt erneut das scharfe Schwert der Organhaftung bei Aktiengesellschaften (vergleichbares gilt im Übrigen auch für die GmbH) in den Mittelpunkt der Diskussion, das nicht nur für Mitglieder des Vorstands (bzw. der Geschäftsführung) einer Gesellschaft gilt, sondern auch für Mitglieder des Aufsichtsrats.

Die unbeschränkte Haftung der Organmitglieder mit ihrem Privatvermögen bereits bei (leicht) fahrlässigen Pflichtverletzungen erscheint insbesondere bei Aufsichtsräten besonders hart: Bei Aufsichtsratsmandaten handelt es sich regelmäßig um Nebentätigkeiten neben einer hauptamtlichen Betätigung; die Vergütung für eine solche Mandatswahrnehmung hat dementsprechend auch wenig mit den in der öffentlichen Diskussion regelmäßig kritisierten millionenschweren „Manager-Gehältern“ von Vorständen zu tun.

Fest steht, dass das Pflichtenprogramm von Aufsichtsräten für den Fall einer möglichen Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder nicht selten eine Gratwanderung ist. Die Chancen und Risiken der Verfolgung derartiger Ansprüche sind genau zu analysieren (und zu protokollieren), das Unternehmenswohl darf – in beide Richtungen – nicht aus dem Blick verloren werden. Bei der Frage, in welcher Höhe eine Kompensation des eingetretenen Schadens überhaupt realistisch ist, ist einerseits das Privatvermögen der Vorstände zu ermitteln, andererseits auch eine etwaige (D&O-)Versicherungssumme zu berücksichtigen. Von überragender Bedeutung ist hierbei, auch nach den Feststellungen des OLG Hamm, die Einholung sachkundigen (Rechts-)Rats.

(19. April 2022)