Baunutzungsplan: Bundesverwaltungsgericht als Schlichter im Streit zwischen den Senaten des OVG Berlin-Brandenburg

Der Baunutzungsplan von 1958 ist in weiten Teilen des ehemaligen West-Berlins weiterhin in Kraft, obwohl er Wohnungsneubau und Nachverdichtung bekanntermaßen hemmt. Im Jahr 2020 hatte der 2. Senat des OVG Berlin-Brandenburg seine bisherige „Baublockrechtsprechung“ zur Beurteilung der Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans aufgegeben. Im Wesentlichen ging es dem 2. Senat darum, die kleinteilige Betrachtung des jeweiligen Baublocks durch eine großflächigere Betrachtung des jeweiligen Baugebiets – begrenzt durch die Bezirksgrenzen – zu ersetzen. Es entstand die Erwartung, dass das Verwaltungsgericht die Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans nun künftig für größere Bereiche feststellen würde und die Bezirksämter sich in Baugenehmigungsverfahren auf entsprechende Urteile berufen würden. Über die Einzelheiten hatten wir hier ausführlich berichtet.

Entscheidung des 10. Senats im Jahr 2023

Der 10. Senat des OVG Berlin-Brandenburg sah dies aber anders. In seinem Urteil vom 22. Februar 2023 (OVG 10 B 15.18) widersprach er dem 2. Senat und hielt an der „Baublockrechtsprechung“ fest. Er begründete seine Auffassung mit § 34 Abs. 1 BauGB: Aus Wertungsgesichtspunkten mache es Sinn, für die Beurteilung der Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans nur auf die Entwicklung in der näheren Umgebung des Bauvorhabens abzustellen.

Damit aber nicht genug: Nach ständiger Rechtsprechung wird ein Bebauungsplan nur funktionslos, wenn die zur Funktionslosigkeit führende Abweichung zwischen der planerischen Festsetzung und der tatsächlichen Situation einen gewissen Grad erreicht hat, sodass das Vertrauen in die Fortgeltung des Bebauungsplans nicht mehr schutzwürdig ist („Offenkundigkeit“). Der 2. Senat hatte daran in seiner Entscheidung im Jahr 2020 keine Zweifel, weil die hohe Baudichte, die zahlreichen Dachgeschossausbauten und somit die Abweichung von der festgesetzten GFZ nach Auffassung des Senats für jedermann erkennbar waren. Der 10. Senat legte nun aber einen deutlich strengeren Maßstab an und verlangt, es müsse sich dem durchschnittlichen Bürger bei der Betrachtung des Gebiets auf den ersten Blick aufdrängen, dass die betreffende Festsetzung des Bebauungsplans nicht eingehalten sein kann bzw. nicht mehr zu verwirklichen ist. Bei Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung wie der GFZ werde dies nur in äußersten Ausnahmefällen erfüllt sein, weil diese Festsetzungen erheblich rechtlich überformt und oftmals nur in Relation zu anderen Festsetzungen zu bestimmen seien.

Für Bauherren folgte daraus die absurde Situation, dass die Beurteilung der Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans davon abhing, in welchem Bezirk ihr Bauvorhaben liegt. Denn davon hängt ab, ob entsprechende Klagen bei der 13. oder 19. Kammer des Verwaltungsgericht und im Anschluss beim 2. oder 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts landen.

Bundesverwaltungsgericht sorgt für Klarheit

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 24. April 2024 (4 C 2/23) für Klarheit gesorgt. Der 10. Senat habe für die Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans zu Unrecht nur auf den Baublock abgestellt. Maßgeblich sei grundsätzlich das Plangebiet, das durch den Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Bezirks begrenzt sei. Insofern stimmt das Bundesverwaltungsgericht also dem 2. Senat zu. Allerdings sei eine Begrenzung auf ein kleineres Teilgebiet nicht ausgeschlossen, „wenn die betroffene Festsetzung ihre Wirkung nach der Plankonzeption der Gemeinde gerade in diesem Teilbereich entfalten soll“.

Hinsichtlich der Offenkundigkeit hat das Bundesverwaltungsgericht dem 10. Senat ausdrücklich widersprochen. Die Offenkundigkeit bemisst sich nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts „nach einer durch besondere Fachkenntnisse geprägten Betrachtungsweise“. Auf den Erkenntnishorizont eines wie auch immer gearteten „Durchschnittsbetrachters“ kommt es daher nicht an.

Aussicht

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist nicht nur zu begrüßen, weil es in dem Streit zwischen den Senaten des OVG weitgehend für Klarheit sorgt. Die Entscheidung ist auch in der Sache erfreulich. Nunmehr ist für den gesamten Geltungsbereich des Baunutzungsplans geklärt, dass die Funktionslosigkeit in der Regel nicht nur für einen Baublock gilt, sondern für das jeweilige Baugebiet. Diese großflächigere Betrachtung ermöglicht es mehr Bauwilligen, sich im Genehmigungsverfahren auf die Funktionslosigkeit einer Festsetzung zu berufen. Positiv ist auch, dass das Bundesverwaltungsgericht den überzogenen Maßstab des 10. Senats an die Offenkundigkeit korrigiert hat.

Das eigentliche Problem besteht aber fort: Der Baunutzungsplan ist mittlerweile über 60 Jahre alt. Er geht an der Realität und den städtebaulichen Bedürfnissen Berlins und seiner Einwohner vorbei, indem er die so wichtigen Nachverdichtungen zur Wohnnutzung hemmt. Es kann nur immer wiederholt werden, dass es höchste Zeit ist, den Baunutzungsplan endlich aufzuheben und – wo erforderlich – durch modernes Planungsrecht zu ersetzen.

(20. August 2024)