OVG Berlin-Brandenburg ändert seine Rechtsprechung zum Baunutzungsplan

Der Baunutzungsplan von 1958 ist bekanntlich eine Besonderheit des Berliner (übergeleiteten) Planungsrechts und, weil er inhaltlich im Grunde vollends überholt ist, fast stets ein planungsrechtlicher Hemmschuh. Die Bauverwaltung wendet ihn weiter an, und muss es teilweise auch wohl, solange er nicht endlich durch modernes Planungsrecht ersetzt wird. Bis dahin werden die Entscheidungen zu seiner Funktionslosigkeit weiter zunehmen, und dafür ist bedeutsam, dass das OVG Berlin-Brandenburg seine jahrelange Rechtsprechung dazu geändert hat, wie die Funktionslosigkeit festzustellen ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. September 2020 – 2 B 10.17). Das Gericht hat seine sogenannte „Baublockrechtsprechung“ aufgegeben und den zu betrachtenden Bereich für die Prüfung der Funktionslosigkeit erweitert. Zur Einordnung: „Funktionslosigkeit“ bedeutet, dass der Plan die bauliche Entwicklung nicht mehr sinnvoll steuern kann, auch weil die Bauverwaltung selbst mit Baugenehmigungen längst das planerische Ziel des Baunutzungsplanes aufgegeben hat.

Sachverhalt

Das OVG hatte über einen typischen Konflikt mit dem Baunutzungsplan zu entscheiden, einen Dachgeschossausbau in Berlin-Neukölln im Gebiet der Schillerpromenade. Die GFZ beträgt im Bestand 3,91 und würde sich durch den Ausbau auf 4,52 erhöhen. Der Baunutzungsplan setzt hier (im allgemeines Wohngebiet der Baustufe V/3) mit eine GFZ von höchstens 1,5 fest.

Die Klägerin beantragte beim Bezirksamt eine Befreiung von der Festsetzung der GFZ das Bezirksamt hat sie versagt. Die Klägerin hat vor dem VG beantragt, festzustellen, dass eine Befreiung nicht erforderlich ist. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, weil der Baunutzungsplan mit der Festsetzung der GFZ funktionslos geworden sei. Dagegen hat das Land Berlin Berufung eingelegt, die das OVG zurückgewiesen hat.

Rechtsnatur des Baunutzungsplans

Der Baunutzungsplan für Berlin 1958/60 wurde für den ehemaligen Westteil Berlins aufgestellt. Es handelt sich dabei um einen vorbereitenden Bauleitplan. Gemäß § 7 Nr. 3 Bauordnung für Berlin 1958 gelten seine Festsetzungen jedoch auch bei der Bewertung der Zulässigkeit eines einzelnen Bauvorhabens. In dieser Funktion ist der Baunutzungsplan gemäß § 173 Abs. 3 Bundesbaugesetzbuch übergeleitet worden. Weite Teile des Baunutzungsplans gelten damit grundsätzlich fort, sofern sie nicht durch neueres Planungsrecht ersetzt wurden. Seine Festsetzungen werden daher von den Bezirksämtern bei der Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen von Bauvorhaben im Genehmigungsverfahren auch heute noch herangezogen.

Praktische Probleme

Die Anwendung des Baunutzungsplans durch die Bezirksämter führt teilweise zu absurden Ergebnissen und hat bereits mehrfach das Verwaltungsgericht Berlin und das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg beschäftigt. Im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen dabei regelmäßig die Festsetzungen des Baunutzungsplans zum Maß der baulichen Nutzung und die Frage, ob diese funktionslos geworden sind. So setzt der Baunutzungsplan als höchsten Wert in der Baustufe V/3 eine Geschossflächenzahl (GFZ) von 1,5 fest. Die GFZ gibt das Verhältnis der gesamten Geschossfläche zur Fläche des Baugrundstücks an. Eine GFZ von 1,5 ist in verdichteten Innenstadtbereichen kaum einzuhalten, wurde auch schon bei Aufstellung des Baunutzungsplans auf zahlreichen Grundstücken nicht eingehalten und liegt in diesen Bereichen tatsächlich häufig bei weit über 3,0. Die vergleichsweise geringen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung haben ihren Ursprung in den städtebaulichen Vorstellungen der 50er- und 60er-Jahre. Der Baunutzungsplan zielte bei seinem Inkrafttreten auf eine Entkernung und Beseitigung der dichten Bebauung der Innenstadt zur Erreichung des Bildes einer durchgrünten Stadt mit einer erheblich geringeren Bebauungs- und Bevölkerungsdichte.

Es ist ein städtebaulicher Jammer, dass der Baunutzungsplan mit den heute bestehenden Verhältnissen und Bedürfnissen an vielen Standorten überhaupt nicht mehr vereinbar ist, von den Bezirksämtern aber dennoch angewendet wird – und oft auch angewendet werden muss. Soll beispielsweise das Dachgeschoss ausgebaut werden, führt dies zu einer weiteren Erhöhung der GFZ. Die Bezirksämter lehnen, wie auch hiesiger Fall zeigt, entsprechende Baugenehmigungen für den Dachgeschossausbau unter Verweis auf die Festsetzungen des Baunutzungsplans ab. Angesichts der wachsenden Bevölkerung und des Mangels an Wohnraum sind jedoch vielfach Nachverdichtungen und gerade kein Rückbau gewünscht und nach Inkrafttreten des Baunutzungsplans auch in großer Zahl erfolgt.

Bisherige Rechtsprechung

Aus diesen Gründen haben sowohl das VG Berlin als auch das OVG Berlin-Brandenburg schon mehrfach entschieden, dass der Baunutzungsplan bzw. einzelne seiner Festsetzungen wegen Funktionslosigkeit außer Kraft getreten sind. Für die Gerichte war dabei entscheidend, dass eine Entwicklung stattgefunden hat, die es ausschließt, dass die ursprünglichen, mit den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung verfolgten Ziele, noch erreicht werden können. Dies sei vielmehr ausgeschlossen, weil eine Nachverdichtung vielerorts erwünscht sei – auch stattgefunden hat – und häufig auch Erhaltungssatzungen bestehen, die gerade darauf abzielen, die bestehende Bausubstanz zu erhalten.

Für die Beurteilung, ob eine entsprechende Entwicklung, die das Erreichen der Ziele des Baunutzungsplans ausschließt, hat die Rechtsprechung bisher lediglich den jeweiligen Baublock betrachtet, in dem sich das streitgegenständliche Grundstück befindet. Es wurde also ein vergleichsweise kleiner Bereich als Beurteilungsmaßstab herangezogen. Es wurde nur geprüft, ob die Entwicklung in dem maßgeblichen Baublock dafür spricht, dass die Festsetzung der GFZ funktionslos geworden ist. Welche Entwicklungen sich im sonstigen Bereich des Baunutzungsplans vollzogen haben, wurde gänzlich ausgeblendet.

Neue Rechtsprechung

Mit seiner Entscheidung vom 15. September 2020 hat das OVG diese Rechtsprechung aufgegeben und zieht den räumlichen Bereich, der als Beurteilungsmaßstab dient, deutlich weiter. So sei innerhalb der Baustufenfestsetzung das jeweilige Baugebiet zu betrachten, in dem das Baugrundstück liegt. Der Baublock komme wegen zu geringer räumlicher Ausdehnung nicht in Betracht. Andererseits sei aber nicht das gesamte Plangebiet des Baunutzungsplans in den Blick zu nehmen. Dies begründet das OVG zum einen mit den Besonderheiten des als vorbereitender Bebauungsplan für das gesamte Stadtgebiet konzipierten Baunutzungsplans, wie die Größe des Plangebiets und die großflächigen, nicht parzellenscharf abgegrenzten Baugebietsausweisungen. Zum anderen stellt das OVG auf die Zuständigkeit des Bezirks für den Erlass von Bebauungsplänen ab, die einer Überschreitung der Bezirksgrenzen entgegenstehe.

Bewertung der Entscheidung des OVG

Die Entscheidung des OVG ist grundsätzlich zu begrüßen, weil die bisherige, kleinteilige und blockweise Vorgehensweise aufgegeben wurde. Dies bedeutet, dass die Funktionslosigkeit der Festsetzungen des Baunutzungsplans zukünftig für größere Bereiche festgestellt wird als bisher. Ist die Funktionslosigkeit für einen Bereich einmal von der Rechtsprechung bejaht worden, kann im Genehmigungsverfahren darauf verwiesen werden. Zwar haben die Bezirksämter als Baubehörden grundsätzlich nicht die sog. „Verwerfungskompetenz“: Sie dürfen die Rechtsvorschrift nicht eigenmächtig unangewendet lassen, selbst wenn sie von der Funktionslosigkeit des Baunutzungsplans und damit von seiner Unwirksamkeit überzeugt sind. Etwas anderes gilt aber, wenn die Unwirksamkeit der Festsetzungen bereits durch ein Verwaltungsgericht in einem Parallelverfahren bejaht worden ist.

Wichtige Fragen bleiben daher noch offen: Was ist das Parallelverfahren? Wie weit gehen die Feststellungen bereits ergangener Urteile? Wie ist mit früheren Entscheidungen umzugehen ist, denen eine blockweise Betrachtung zugrunde lag? Wird in einem Baublock, für den die Funktionslosigkeit der Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung schon einmal durch ein Gericht bejaht wurde, eine Genehmigung für ein anderes Baugrundstück beantragt, stellt sich die Frage, ob noch auf die damalige Entscheidung zur Funktionslosigkeit verwiesen werden kann.

Auch bleibt etwas unklar, wie weit die Rechtsprechung den maßgeblichen Bereich für die Beurteilung der Funktionslosigkeit zukünftig tatsächlich ziehen wird. Einerseits hat das OVG nämlich als maßgeblichen Bereich die Baustufe und innerhalb dieser Baustufe das jeweilige Baugebiet bezeichnet. Solche Bereiche können durchaus über Bezirksgrenzen hinwegreichen. Andererseits hat das OVG aber auch darauf abgestellt, dass die Bezirksämter für den Erlass von Bebauungsplänen zuständig sind und dass diese Zuständigkeit der Überschreitung von Bezirksgrenzen entgegensteht. Dies kann so verstanden werden, dass der maßgebliche Beurteilungsbereich jedenfalls nicht über Bezirksgrenzen hinausreichen kann. Ganz sicher ist dies jedoch angesichts der kryptischen Formulierung des OVG nicht und war auch im zu entscheidenden Fall nicht relevant, da eine Überschreitung der Bezirksgrenzen nicht vorlag.

Die Entscheidung des OVG hat somit Licht- und Schattenseiten. Das eigentliche Problem liegt aber darin, dass der Baunutzungsplan, welcher nunmehr 60 Jahre alt ist und mit der heutigen Realität nichts mehr zu tun hat, weiterhin angewendet wird. Es ist unverständlich, wieso angesichts der Wohnungsknappheit in Berlin auf der Grundlage eines derart veralteten Planungsinstruments Nachverdichtungen von den Bezirksämtern abgelehnt werden. Wünschenswert und seit Jahren überfällig wäre, den Baunutzungsplan aufzuheben, so dass § 34 BauGB angewendet werden kann, und dort, wo es Bedarf gibt, moderne Bebauungspläne aufzustellen. Solange dies nicht geschieht, wird es weiterhin Auseinandersetzungen mit den Bezirksämtern geben, werden sich Genehmigungsverfahren unnötig in die Länge ziehen und wird den Verwaltungen ein modernes städtebauliches Planungsrecht vorenthalten.

(15. Oktober 2020)