Mehr Transparenz: EuGH stärkt privaten Kartellschadens­ersatz

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich in seinem Urteil vom 14. März 2017 (Rs. C-162/15 P „Evonik Degussa“) grundlegend zu verschiedenen Fragen rund um die Veröffentlichung von kartellrechtlichen Entscheidungen der Kommission geäußert. Er stärkt die Veröffentlichungsrechte der Kommission und damit auch die Informationsmöglichkeiten privater Kartellschadensersatzkläger. Von besonderer Bedeutung sind folgende Kernaussagen:

  • Bei der Veröffentlichung von Entscheidungen der Kommission nach Art. 30 VO (EG) Nr. 1/2003 gilt die Annahme, dass Angaben von betroffenen Unternehmen die mehr als fünf Jahre alt sind, auf Grund des Zeitablaufs nicht mehr aktuell und schützenswert sind.
  • Die Veröffentlichung von Kommissionsentscheidungen unterliegt anderen Maßstäben als der Zugang zu Dokumenten der Kommission.
  • Angaben aus Kronzeugenerklärungen selbst dürfen nicht nach Art. 30 VO (EG) Nr. 1/2003 veröffentlicht werden. Zulässig ist aber in der Regel die Veröffentlichung von Informationen, die zur Stützung des Kronzeugenantrags übermittelt wurden

Der Rechtsstreit

Die Kommission hat im Jahr 2006 gegen zahlreiche Unternehmen der Chemiebranche eine Bußgeldentscheidung wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV erlassen (K(2006) 1766 endg.; im Folgenden: „WPP-Entscheidung“). Eine Kurzzusammenfassung der WPP-Entscheidung wurde im Amtsblatt der EU veröffentlicht (ABl. 2006, L 353, 54). Die Evonik Degussa GmbH hatte der Kommission als Kronzeugin Informationen gegeben und bekam keine Geldbuße.

Im Jahr 2007 veröffentlichte die Kommission eine erste nicht vertrauliche Fassung der WPP-Entscheidung. Zahlreiche Kartellgeschädigte beschwerten sich über den geringen Umfang. Im Jahr 2011 beabsichtigte die Kommission, eine neue, detailliertere Fassung der WPP-Entscheidung zu veröffentlichen. Evonik Degussa war mit dieser Veröffentlichung nicht einverstanden. Sie berief sich vor allem darauf, dass diese Fassung verschiedene Angaben preisgebe, die die Kommission im Kronzeugenprogramm erhalten hatte. Der Anhörungsbeauftrage lehnte die Anträge auf vertrauliche Behandlung im Ergebnis ab (Beschluss C(2012) 3534 final). Evonik Degussa griff diesen Beschluss im Jahr 2012 erfolglos vor dem EuG an (EuG, Urt. v. 28.01.2015, Rs. T-341/12).

Der EuGH hat das erstinstanzliche Urteil in seinen Kernaussagen bestätigt, es aber im Ergebnis aufgehoben, weil der Anhörungsbeauftragte nach Auffassung des EuGH seine Prüfungskompetenz verkannt hat. Im Einzelnen:

Widerlegliche 5-Jahres-Vermutung

Der EuGH bestätigt die vom EuG angewandte sogenannte widerlegliche 5-Jahres-Vermutung. Danach sind vertrauliche Angaben nach mehr als fünf Jahren grundsätzlich als nicht mehr vertraulich anzusehen. Unternehmen müssen berechtigte Geheimhaltungsinteressen im Einzelfall nachweisen, wenn sie diese weiter schützen möchten. Der EuGH stellte klar, dass diese Vermutung nicht nur gegenüber Streithelfern bei Rechtsstreitigkeiten vor den Unionsgerichten gilt, sondern auch bei der Veröffentlichung von kartellrechtlichen Entscheidungen durch die Kommission nach Art. 30 VO (EG) Nr. 1/2003. Im Streitfall waren die Informationen älter als fünf, meistens sogar älter als zehn Jahre. Ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse nach Art. 30 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1/2003 kam nach Auffassung des EuGH nicht in Betracht.

Keine Übertragung der Rechtsprechung zur VO (EG) Nr. 1049/2001

Art. 30 VO (EG) Nr. 1/2003 sieht als Regelfall (nicht als Ausnahme) vor, dass Kommissionsentscheidungen veröffentlicht werden. Nach Ansicht des EuGH stellt diese Vorschrift die Wirksamkeit der europäischen Wettbewerbsregeln sicher. Das Interesse an privatem Schadensersatz müsse im Einzelfall gegen das Interesse der betroffenen Unternehmen (wie das Recht auf Wahrung des Berufs- oder Geschäftsgeheimnisses) oder den betroffen Einzelnen (wie das Recht auf Schutz personenbezogener Daten) abgewogen werden. Der EuGH stellte fest, dass seine Rechtsprechung zur VO (EG) Nr. 1049/2001 zum Zugang der Kommissionsakten nicht auf die Veröffentlichung von Kommissionsentscheidungen nach Art. 30 VO (EG) Nr. 1/2003 übertragbar ist. Es besteht also keine allgemeine Annahme, die die Veröffentlichung von Inhalten einer Kommissionsakte eines Verfahrens nach Art. 101 AEUV untersagt (vgl. insoweit zur VO (EG) Nr. 1049/2001: EuGH, Urt. v. 27.02.2014, Rs. C-365/12 P, Rn. 92 f. „Kommission/EnBW“).

Zum Schutz von Kronzeugeninformationen

Der EuGH äußerte sich ferner zum Schutz von Kronzeugeninformationen. Danach dürfen nur Angaben aus der Kronzeugenerklärung selbst nicht veröffentlicht werden. Dagegen ist es zulässig, aus Dokumenten, die ein Unternehmen der Kommission zur Stützung seiner Kronzeugenerklärung vorgelegt hat, wörtlich zu zitieren. Etwas anderes gilt nur, wenn Unternehmen berechtigte Geheimhaltungsinteressen – insbesondere Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse – geltend machen. Das war jedoch nicht der Fall, weil die Kommission die Veröffentlichung im Vorfeld entsprechend bereinigt hatte.

Die streitgegenständliche Veröffentlichung laufe schließlich auch nicht den Mitteilungen der Kommission von 2002 und 2006 über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen zuwider oder gefährde die Effektivität des Kronzeugenprogramms. Nach dem EuGH legen diese Mitteilungen der Kommission lediglich die Bedingungen fest, unter denen einem Unternehmen die Geldbuße entweder vollständig erlassen oder ermäßigt werden kann. Es werde jedoch weder bezweckt noch bewirkt, der Kommission zu verbieten, Informationen über die Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV zu veröffentlichen, die ihr im Rahmen des Kronzeugenprogramms vorgelegt wurden.

Prüfungskompetenz des Anhörungsbeauftragten

Der EuGH hob das Urteil des EuG dennoch teilweise auf, weil der Anhörungsbeauftragte seine Prüfungskompetenz verkannt habe. Der Anhörungsbeauftragte hatte im Streitfall seine Prüfung darauf beschränkt, ob und inwieweit es sich bei den Informationen um Geschäftsgeheimnisse oder sonstige vertrauliche Informationen handelt. Dagegen prüfte er nicht, ob die Veröffentlichung gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung verstoße. Diese Grundsätze verfolgten nicht speziell das Ziel, die Vertraulichkeit von Informationen oder Dokumenten zu schützen. Das EuG bestätigte diese Verfahrensweise des Anhörungsbeauftragten.

Der EuGH teilte diese Rechtsauffassung dagegen nicht. Der Anhörungsbeauftragte gewährleiste im Rahmen von Art. 8 des Beschlusses 2011/695 die verfahrensrechtliche Umsetzung des Schutzes, den das Unionsrecht Informationen gewährt, von denen die Kommission bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts Kenntnis erlangt. Deswegen müsse der Anhörungsbeauftragte jeden Rechtsgrund prüfen, der den Schutz der Vertraulichkeit der fraglichen Informationen rechtfertigen kann. Der angefochtene Beschluss des Anhörungsbeauftragten wurde (nur) insoweit für nichtig erklärt und das Urteil des EuG entsprechend aufgehoben.

(27. März 2017)