Generationsübergreifender Klimaschutz: Grundsatzurteil des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht hat ein Grundsatzurteil in Sachen Klimaschutz gefällt. Mit der gestern veröffentlichten Entscheidung vom 24. März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den generationenübergreifenden Klimaschutz gestärkt.

Gegenstand der Entscheidung sind vier Verfassungsbeschwerden. Sie richten sich zum einen gegen einzelne Vorschriften des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 („KSG“), zum anderen gegen das Unterlassen weiterer Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen. Die Beschwerdeführenden machen in erster Linie geltend, der Staat habe keine ausreichenden Regelungen zur alsbaldigen Reduktion von Treibhausgasen unternommen, die aber erforderlich seien, um die Erwärmung der Erde bei 1,5 °C oder wenigstens bei deutlich unter 2 °C zu halten.

Das BVerfG stellt fest, dass die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis zum Jahr 2030 zugelassenen Treibhausgasemissionsmengen bereits konkrete Folgen für die in der Zeit danach anstehende Minderungslast haben. Sie bestimmen so schon jetzt – nicht bloß faktisch, sondern auch rechtlich vorwirkend – über künftige Grundrechtsrestriktionen mit. Das Grundgesetz lasse die tatenlose Hinnahme eines ad infinitum fortschreitenden Klimawandels durch den Staat nicht zu. Der Staat könne sich seiner Verantwortung auch nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.

Zum Klimaschutzgesetz

Das KSG hat den Charakter eines Rahmengesetzes. Aus § 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 KSG i.V.m. Anlage 2 ergibt sich ein konkreter Emissionsreduktionspfad u.a. für die Sektoren Energiewirtschaft, Industrie und Verkehr. In § 3 Abs. 1 KSG wird das Ziel formuliert, die Treibhausgasemission schrittweise zu mindern. Bis zum Zieljahr 2030 sollen die Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Jahr 1990 um mindestens 55 % reduziert werden. Aus § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG i.V.m. Anlage 2 folgen die konkreten Jahresemissionsmengen für den Zeitraum bis zum Jahr 2030.

Generationenübergreifende Freiheitssicherung

Die Kernaussage des Urteils findet sich im Leitsatz 4 wieder. Dort heißt es:

 „Das Grundgesetz verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Subjektivrechtlich schützen die Grundrechte als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Auch der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.

Die Schonung künftiger Freiheit verlangt auch, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. Konkret erfordert dies, dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die für die erforderlichen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln.“

Die Verfassungswidrigkeit der § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG i. V. m. Anlage 2 beruht auf der bereits heute angelegten Verletzung von Freiheitsrechten für den Zeitraum nach 2030. Das Bundesverfassungsgericht begründet die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelungen mit der Notwendigkeit intertemporaler Freiheitssicherung.

Die im KSG zugelassenen Jahresemissionsmengen stellen eine Gefährdung künftiger Freiheit dar. Der Verbrauch der in § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG i. V. m. Anlage 2geregelten Jahresemissionsmengen verzehre notwendig und unumkehrbar Teile des verbleibenden CO2-Budgets. Wenn die Erderwärmung aber bei einer bestimmten Temperaturschwelle angehalten werden soll, dürfe nur noch eine begrenzte Menge an CO2 emittiert werden; global verbleibe damit ein sogenanntes CO2-Restbudget. Soweit über dieses Restbudget hinaus emittiert werde, würde die Temperaturschwelle, ab der der Klimawandel unumkehrbar weiter fortschreite, überschritten.

Folglich entfalteten die in § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG i. V. m. Anlage 2 zugelassenen Jahresemissionsmengen eine unausweichliche, eingriffsähnliche Vorwirkung auf die nach 2030 bleibenden Möglichkeiten, von grundrechtlich geschützten Freiheiten tatsächlich Gebrauch zu machen. Diese Vorwirkung werde durch das Verfassungsrecht selbst vermittelt. Künftige Freiheitseinschränkungen sind gerade aufgrund des zunehmenden Gewichtes des in Art. 20a GG verankerten Klimaschutzgebots konkret zu befürchten (vgl. Rn. 187).

Gerade weil die Weichen für künftige Freiheitsbelastungen bereits durch die aktuelle Regelung zulässiger Emissionsmengen gestellt würden, müsste deren Auswirkung auf künftige Freiheit aus heutiger Sicht und zum jetzigen Zeitpunkt – in dem die Weichen noch umgestellt werden können – verhältnismäßig sein. Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folge, dass nicht einer Generation zugestanden werden dürfe, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde (vgl. Rn. 192).

Die beanstandeten Regelungen wären somit verfassungswidrig, wenn sie zuließen, dass so viel vom verbleibenden Treibhausgasbudget verzehrt würde, dass die künftigen Freiheitseinbußen aus heutiger Sicht unzumutbare Ausmaße annähmen, weil für lindernde Entwicklungen und Transformationen keine Zeit mehr bliebe. Lässt sich angesichts der Ungewissheit, wie groß das verbleibende CO2-Budget künftig tatsächlich sein wird, nicht mit Sicherheit feststellen oder ausschließen, dass es zu solchen aus heutiger Sicht unzumutbaren Freiheitseinbußen kommen muss, können heute schon Maßnahmen geboten sein, die ein solches Risiko wenigstens begrenzen (vgl. Rn. 194).

Weil die in den beiden genannten Vorschriften bis 2030 vorgesehenen Emissionsmengen die anschließend im Einklang mit Art. 20a GG verbleibenden Emissionsmöglichkeiten erheblich reduzieren, müssten zur Gewährleistung eines freiheitsschonenden Übergangs zur Klimaneutralität hinreichende Vorkehrungen getroffen werden, um die ab 2031 auf die Beschwerdeführenden zukommende Reduktionslast zu erleichtern und die damit verbundene Grundrechtsgefährdung einzudämmen. Hieran fehle es bislang. Das KSG enthalte keine Mindestregelungen über Reduktionserfordernisse nach 2030, die geeignet wären, einer notwendigen Entwicklung klimaneutraler Techniken und Praktiken rechtzeitig grundlegende Orientierung und Anreiz zu bieten (vgl. Rn. 195).

Unzulässigkeit der Verordnungsermächtigung

Die Verfassungswidrigkeit ergibt sich außerdem daraus, dass der Gesetzgeber in § 4 Abs. 6 KSG die Bundesregierung ermächtigt hat, den weiteren Ausbaupfad für den Zeitraum nach 2030 durch Rechtsverordnung zu regeln (vgl. Rn. 259 ff.).

Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts müsse der Gesetzgeber gemäß Art. 80 Abs. 1 GG die erforderlichen Regelungen zur Größe der für bestimmte Zeiträume insgesamt zugelassenen Emissionsmengen selbst treffen. Gerade die Bemessung der weiteren Jahresemissionsmengen für die Zeit nach 2030 sei von besonders großer Bedeutung für die Verwirklichung der Grundrechte. Allein das Gesetzgebungsverfahren schaffe die verfassungsrechtlich erforderliche Transparenz und gestatte einen öffentlichen Meinungsaustausch darüber, wie die Reduktionslasten nach 2030 verteilt werden sollen. Auch der Gedanke eines durch die Verordnungsermächtigung gewährleisteten „dynamischen Grundrechtsschutzes“ lasse sich dem Gesetzeserfordernis nicht entgegenhalten. Die Herausforderung liege nämlich nicht darin, zum Schutz der Grundrechte regulatorisch mit Entwicklung und Erkenntnis Schritt zu halten, sondern es gehe vielmehr darum, weitere Entwicklungen zum Schutz der Grundrechte regulatorisch überhaupt erst zu ermöglichen (vgl. Rn. 262).

Zum Verständnis von Art. 20a GG

Das Bundesverfassungsgericht äußert sich überdies zum Aussagegehalt des Art. 20a GG. Art. 20a GG sei eine justiziable Rechtsnorm (Rn. 205). Auch wenn Art. 20a GG der Gesetzgebung erheblichen Gestaltungsspielraum gewähre, so werde der politische Entscheidungsspielraum im Hinblick darauf, Maßnahmen zum Umweltschutz zu ergreifen oder es zu lassen, doch begrenzt. Durch Art. 20a GG sei dem Gesetzgeber eine permanente Pflicht aufgegeben, das Umweltrecht den neuesten Entwicklungen und Erkenntnissen in der Wissenschaft anzupassen (vgl. Rn. 212). Eine Verletzung des in Art. 20a GG normierten Klimaschutzgebots könne jedoch aufgrund der Unsicherheit bezüglich der tatsächlichen Größe des globalen CO2-Restbudgets nicht festgestellt werden (vgl. Rn. 236).

Keine Verletzung von Schutzpflichten

Das Bundesverfassungsgericht konnte auch keine Verletzung staatlicher Schutzpflichten feststellen.

Gegenüber den Beschwerdeführenden bestünden wegen der Gefahren des Klimawandels Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und aus Art. 14 Abs. 1 GG. Es sei verfassungsrechtlich jedoch nur begrenzt überprüfbar, ob der Staat ausreichende Maßnahmen getroffen hat, um diese grundrechtlichen Schutzpflichten zu erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht stelle die Verletzung einer Schutzpflicht aber nur dann fest, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen worden sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Das sei hier aufgrund der vom deutschen Gesetzgeber getroffenen Schutzvorkehrungen sowie der Bestrebungen der Bundesregierung, den Klimaschutz durch internationale Abkommen voranzubringen, im Ergebnis nicht der Fall.

Unzulässigkeit der Beschwerde in Bezug auf das Unterlassen weiterer Schutzmaßnahmen

Als nicht zulässig erachtet das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde, soweit auch nach Verabschiedung des KSG gesetzgeberisches Unterlassen als solches beanstandet wird. Das Unterlassen staatlicher Schutzmaßnahmen könne als solches grundsätzlich nur bei völliger Untätigkeit des Gesetzgebers mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden. Habe der Gesetzgeber hingegen eine Regelung getroffen, müsse sich die Verfassungsbeschwerde gegen diese gesetzliche Vorschrift richten. Das gelte auch, wenn die Beschwerdeführenden meinten, der Gesetzgeber sei durch eine gesetzliche Regelung seinen Schutzpflichten nicht gerecht geworden.

Fazit

Der Gesetzgeber muss jetzt einen schlüssigen Reduktionspfad vorlegen, der Treibhausgasneutralität schnell und nicht auf Kosten der jungen Generationen erreicht. Damit ist klar: Die Ziele für 2030 müssen deutlich nachgeschärft werden.

Die Entscheidung wird auf die Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, bei der momentan mehrere Klimaklagen auch gegen Deutschland anhängig sind, Auswirkungen haben.

(30. April 2021)