Zulässigkeit von Preisspitzen im Strommarkt 2.0: Gemeinsamer Leitfaden von BNetzA und BKartA

Hintergrund

Mit dem Strommarktgesetz hat sich der Gesetzgeber für einen weiterentwickelten Strommarkt 2.0 auf der Grundlage von Marktmechanismen und gegen die Einführung eines Kapazitätsmarktes entschieden. In § 1a Abs. 1 EnWG findet sich seitdem das Bekenntnis zu einer freien Preisbildung nach wettbewerblichen Grundsätzen und gegen regulatorische Preisobergrenzen. Den Betreibern konventioneller, für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit unverzichtbarer Spitzenlastkraftwerke soll eine Refinanzierung ihrer Anlagen primär über sog. „Preisspitzen“ im Strommarkt gelingen. Um in den kurzen Einsatzzeiten am Strommarkt – vornehmlich bei Lastspitzen oder Dunkelflauten – die erforderlichen Deckungsbeiträge erlösen zu können, sind Gebote oberhalb der spezifischen Grenzkosten für sie existenziell.

Obwohl Preisspitzen damit Grundvoraussetzung für Kraftwerksrefinanzierung und- Investitionsanreize im Strommarkt 2.0 sind, kann deren gezielte Herbeiführung durch marktstarke Unternehmen ein kartellrechtlich verbotenes Verhalten darstellen. Um für mehr Rechtssicherheit bei den beteiligten Marktakteuren zu sorgen, haben das Bundeskartellamt (BKartA) und die Bundesnetzagentur (BNetzA) am 27.09.2019 ihren finalen gemeinsamen „Leitfaden für die kartellrechtliche und energiegroßhandelsrechtliche Missbrauchsaufsicht im Bereich Stromerzeugung/-großhandel“ veröffentlicht. Der Leitfaden behandelt die Zulässigkeit von Preisspitzen im Strommarkt mit Blick auf das allgemeine kartellrechtliche Missbrauchsverbot (Art. 102 AEUV und §§ 19, 29 GWB) mit dem BKartA als zuständige Behörde, aber auch auf die energiehandelsspezifische REMIT-Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 unter Aufsicht der bei der BNetzA angesiedelten Markttransparenzstelle.

Kartellrechtliche Zulässigkeit (BKartA)

Als Adressaten der kartellrechtlichen Missbrauchsvorschriften (Art. 102 AEUV, §§ 19, 29 GWB) kommen nur solche Unternehmen in Betracht, die eine marktbeherrschende Stellung haben. Dementsprechend sind nicht-marktbeherrschende Unternehmen in ihrer Preissetzung und bei der Kapazitätszurückhaltung nicht durch das Missbrauchsverbot beschränkt.

  • Hinsichtlich der Beurteilung einer marktbeherrschenden Stellung ist künftig der Marktmachtbericht des BKartA nach § 53 Abs. 3 S. 2 GWB auf Grundlage der Daten der Markttransparenzstelle zu berücksichtigen. Der relevante Markt umfasst sachlich den Stromerstabsatzmarkt (ohne EEG-Erzeugung und Regelenergie) sowie räumlich das gemeinsame Marktgebiet Luxemburg und Deutschland. Ob Österreich nach der Gebotszonentrennung zum 1. Oktober 2018 einen eigenständigen relevanten Markt darstellt, will das BKartA anhand der Marktwirkungen in künftigen Marktmachtberichten entscheiden. Die Besonderheiten des Strommarktes erfordern nach Auffassung des BKartA zudem eine sog. „Pivotalanalyse“. Dabei wird über den Betrachtungszeitraum eines Jahres ermittelt, ob ein Anbieter für die Deckung der Nachfrage unverzichtbar ist. Im Einklang mit der Sektoruntersuchung aus dem Jahre 2011 wird nach wie vor der Wert von 5 Prozent der Stunden eines Jahres (insgesamt 438 Stunden) als angemessener Richtwert für die Vermutung einer marktbeherrschenden Stellung erachtet.
  • Als missbräuchlich sieht das BKartA eine Kapazitätszurückhaltung dann an, wenn tatsächlich verfügbare Stromerzeugungskapazitäten, die zu einem Preis oberhalb der jeweiligen kurzfristigen Grenzkosten verkaufen könnten (die also „im Geld“ sind), nicht eingesetzt werden. Redispatch-Einsätze nach § 13a EnWG bleiben für die Grenzkostenberechnung derzeit unberücksichtigt. Sollten aber auf Grundlage der neuen Strombinnenmarkt-VO (Art. 13 Abs. 2 VO (EU) 2019/943) zukünftig echte „Redispatch-Märkte“ eingeführt werden, müsste dies Eingang in die kartellrechtliche Beurteilung finden.
  • Für marktbeherrschende Unternehmen besteht allerdings die Möglichkeit, eine Kapazitätszurückhaltung sachlich anhand der Umstände des Einzelfalls zu rechtfertigen. Der explizit vom BKartA benannte Rechtfertigungsgrund der fehlenden Vollkostendeckung ist aus Unternehmenssicht zu begrüßen. Aufgrund immer geringer Einsatzzeiten der Residuallastkraftwerke ist es keineswegs gesichert, dass ein Unternehmen die Vollkosten seines Kraftwerksparks tatsächlich decken kann. Allerdings sind beim Vollkostenansatz alle Erträge innerhalb und außerhalb des Strommarktes 2.0 zu berücksichtigen, d.h. auch Vergütungen für die Regelenergie-Bereitstellung oder für Redispatch-Maßnahmen.

Vereinbarkeit mit REMIT (BNetzA)

Die seit 2011 geltende „Verordnung über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarktes“ (REMIT) verbietet Insiderhandel und Marktmanipulationen im Stromgroßhandelsmarkt (vgl. Art. 3 und 5 REMIT). Für die Überwachung nach Art. 7 Abs. 2 REMIT ist in Deutschland die bei der BNetzA angesiedelte Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom und Gas zuständig (vgl. §§ 47a ff. GWB).

In Abgrenzung zur kartellrechtlichen Prüfung ist Gegenstand der Prüfung nach REMIT stets die einzelne Transaktion bzw. der einzelne Handelsauftrag. Als Adressaten kommen auch nicht-marktbeherrschende Unternehmen in Betracht.

Bloß spekulative Geschäfte („Wetten“) sind noch keine Marktmanipulation. Hinzukommen muss stets ein manipulatives Verhalten, wobei die BNetzA irreführende Signale, ein künstliches Preisniveau oder Verlustgeschäfte als Anhaltspunkte für ein wirtschaftlich irrationales Verhalten der Marktteilnehmer bewertet. Aus der bisherigen Praxis zählt die BNetzA beispielhaft die folgenden Manipulationstatbestände auf:

  • Manipulation von Referenzwerten;
  • Verschleierung tatsächlicher Handelsabsichten (sog. „Layering“ und „Spoofing“);
  • Irreführende Signale und künstliches Preisniveau (sog. „Quote Stuffing“);
  • Scheingeschäfte (sog. „Wash Trades“).

Fazit

In der Sache bringt der Leitfaden eine wünschenswerte Klarstellung zwischen zulässiger Erwirtschaftung von Deckungsbeiträgen im Strommarkt 2.0 und unzulässiger Kapazitätszurückhaltung/Marktmanipulation. Durch den kontinuierlichen Marktaustritt konventioneller Erzeugungskapazitäten, jüngste Konzentrationstendenzen (etwa die Übernahme der E.ON-Erzeugungskapazitäten durch RWE oder die mögliche Verengung des räumlich relevanten Marktes infolge der Abtrennung der österreichischen Gebotszone) und anziehende Börsenstrompreise nehmen Anreize und Möglichkeiten einer unzulässigen Anhebung der Strompreise potentiell zu. Fundamentale Schwächen des kartellrechtlichen Prüfungsansatzes und/oder praktische Nachweisschwierigkeiten werden sich vermutlich erst im Zuge der kartellbehördlichen Verfahrenspraxis herauskristallisieren. Kritik kam bereits vorab von der Monopolkommission, die sich wenige Tage vor der Veröffentlichung des Leitfadens in ihrem 7. Sektorgutachten Energie für eine zeitlich an (Viertel-)Stunden-Intervallen orientierte Marktabgrenzung, eine striktere Kontrolle von Kraftwerksausfällen und gegen die Möglichkeit einer Rechtfertigung der Kapazitätszurückhaltung mit einer Vollkostenunterdeckung ausgesprochen hatte. Mit Blick auf die REMIT verdeutlichen die Systemungleichgewichte im Juni diesen Jahres, die möglicherweise auch auf spekulative Geschäfte (Leerverkäufe) einzelner Marktteilnehmer zurückzuführen waren, den Stellenwert einer effektiven Marktaufsicht durch die Markttransparenzstelle in Zeiten der Energiewende.

(24. Oktober 2019)