Wie erfolgt die Gasversorgung im Krisenfall?

Angesichts des anhaltenden russischen Kriegs gegen die Ukraine stellt sich die Frage, was ein Lieferstopp von russischem Gas für die Versorgungslage in Deutschland bedeutet. Der Füllstand deutscher Gasspeicher liegt mit Stand am 12. März 2022 bei 24,93 Prozent. Um eine 30-tägige Kältewelle zu überstehen, wäre ein Füllstand von 50 Prozent erforderlich. Bereits im Oktober 2021 lag der Füllstand nach Angaben der Bundesnetzagentur deutlich unter den durchschnittlichen Füllständen der vergangenen Jahre zu diesen Zeitpunkten, wobei insbesondere diejenigen Speicher einen extrem niedrigen Füllstand aufwiesen, die Tochtergesellschaften von Gazprom gehören.

Die Rechtslage in Deutschland

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine Notfallversorgung sind in Deutschland im Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), dem Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung (EnSiG 1975) und der Verordnung zur Sicherung der Gasversorgung in einer Versorgungskrise (Gassicherungsverordnung) verankert.

Fernleitungsnetzbetreiber sind nach § 16 EnWG dazu verpflichtet, eine Gefährdung oder Störung der Sicherheit oder Zuverlässigkeit des Gasversorgungssystems zu beseitigen. § 53a EnWG verpflichtet die Gasversorgungsunternehmen zu gewährleisten, dass schutzbedürftige Kunden, insbesondere Haushaltskunden mit Gas versorgt werden.

Das EnSiG kommt im Notfall zur Anwendung. Zweck des EnSiG ist es, die Deckung des lebenswichtigen Bedarfs an Energie für den Fall zu sichern, dass die Energieversorgung unmittelbar gefährdet oder gestört und die Gefährdung oder Störung durch marktgerechte Maßnahmen nicht, nicht rechtzeitig oder nur mit unverhältnismäßigen Mitteln zu beheben ist, § 1 EnSiG. Zu diesem Zweck kann die Bundesregierung Rechtsverordnungen erlassen, die nach § 1 Abs. 3 EnSiG Regelungen zur zeitlichen, örtlichen oder mengenmäßigen Beschränkung der Abgabe, des Bezugs und der Verwendung von Energie vorsehen können. Zudem kann auch die Benutzung von Motorfahrzeugen aller Art nach Ort, Zeit, Strecke, Geschwindigkeit und Benutzerkreis sowie Erforderlichkeit der Benutzung eingeschränkt werden. So gab es während der Ölkrise 1973/74 auf Grundlage des Vorgängergesetzes EnSiG 1973 ein Sonntagsfahrverbot.

Die auf Grundlage des EnSiG erlassene Gassicherungsverordnung regelt die Übertragung der Gaslastverteilung im Notfall an die Bundesnetzagentur und die Länder. Diese können zur Deckung des lebenswichtigen Gasbedarfs als Lastverteiler Verfügungen an Unternehmen und Betriebe, die Gas erzeugen, beziehen oder abgeben sowie an Verbraucher erlassen. Unternehmen, Betriebe und Verbraucher können u.a. verpflichtet werden, bestehende Verträge zu ändern oder neue Verträge abzuschließen. Die Lastverteiler dürfen Verfügungen nur erlassen, soweit diese unbedingt erforderlich sind, um eine Gefährdung oder Störung der lebenswichtigen Versorgung mit Gas zu beheben oder zu mindern.

Auf unionsrechtlicher Ebene trifft Verordnung (EU) 2017/1938 vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 (SoS-VO) Regelungen für den Fall einer Versorgungskrise. Diese Verordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten u.a. dazu, einen Notfallplan für die Gasversorgung aufzustellen.

Der Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland, Stand September 2019, sieht drei Krisenstufen vor. Zunächst eine Frühwarnstufe, wenn konkrete Hinweise vorliegen, dass es wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage kommt. Indikatoren dafür sind u.a. langanhaltende niedrige Speicherfüllstände. Zweite Stufe ist eine Alarmstufe, wenn eine Störung der Gasversorgung vorliegt, der Markt aber noch in der Lage ist, diese zu bewältigen. Dritte Stufe ist die Notfallstufe, bei der die Gasversorgung nicht ausreicht, um die Nachfrage zu decken und nicht marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um insbesondere die Versorgung von geschützten Gruppen sicherzustellen.

Die Zuständigkeit für Ausrufung und Feststellung der Frühwarn- und Alarmstufe liegt beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Die Feststellung der Notfallstufe erfolgt durch Verordnung der Bundesregierung und wird im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Wird die Notfallstufe festgestellt, kommen die oben genannten Instrumentarien des EnSiG und der Gassicherungsverordnung zur Anwendung. Bislang hat das BMWK keine dieser Stufen ausgerufen.

Pläne für ein Gesetz zur Nationalen Gasreserve

Nach einem Entwurf des BMWK soll künftig sichergestellt werden, dass die Gasspeicher immer ausreichend befüllt sind. Geplant ist die Einführung von Füllstandsvorgaben. Danach müssen Gasversorgungsunternehmen bis zum 1. August jeden Jahres die Speicher zu 65 Prozent befüllen, bis zum 1. Oktober zu 80 Prozent, bis zum 1. Dezember zu 90 Prozent und bis zum 1. Februar des Folgejahres zu 40 Prozent. Das Gesetz soll zeitnah in den Bundestag eingebracht und bereits zum 1. Mai 2022 in Kraft treten, um das Sommerhalbjahr zur Befüllung der Speicher zu nutzen.

Vertragliche Auswirkungen

Auf allen drei Stufen können marktbasierte Maßnahmen nach Kapitel 7 des Notfallplans ergriffen werden. Fernleitungs- und Verteilernetzbetreiber ergreifen netz- und marktbezogene Maßnahmen nach §§ 16 Abs. 1, 16a EnWG. Gelingt es den Fernleitungsnetzbetreibern mithilfe der marktbasierten Maßnahmen nicht, die Gefährdung oder Störung der Gasversorgung zu beseitigen, können sie Maßnahmen nach § 16 Abs. 2 EnWG ergreifen. Darunter fällt insbesondere die Anpassung sämtlicher Gaseinspeisungen, Gastransporte und Gasausspeisungen in ihren Netzen an die Erfordernisse eines sicheren und zuverlässigen Netzbetriebs. Für den Fall einer solchen Anpassung sieht § 16 Abs. 3 S. 1 EnWG vor, dass bis zur Beseitigung der Gefährdung oder Störung alle hiervon jeweils betroffenen Leistungspflichten ruhen. Das gilt für alle von den Notfallmaßnahmen betroffenen Pflichten zwischen Netzbetreiber und Maßnahmenadressat. Die Bilanzkreisabrechnung ist gemäß § 16 Abs. 3 S. 2 EnWG hiervon nicht betroffen. § 16 Abs. 3 S. 3 EnWG schließt die Haftung der Fernleitungsnetzbetreiber für Vermögensschäden aus, die durch Notfallmaßnahmen nach Abs. 2 entstehen.

Für Maßnahmen, die nicht unter § 16 Abs. 2 EnWG fallen, kommt ein Rückgriff auf die Force Majeure Regelung des § 7 des EFET Standardvertrages in Betracht. Für den Zeitraum, in dem eine Partei aufgrund höherer Gewalt an der Erfüllung ihrer Liefer- oder Abnahmepflichten verhindert ist, wird sie von diesen Pflichten befreit und muss für etwaige Fehlmengen nicht Schadensersatz leisten. Gemäß § 7.4 des Standardvertrages wird auch die andere Partei von ihrer Leistungspflicht befreit. Es kommt also maßgeblich darauf an, ob die zur Versorgungskrise führenden Umstände unter den Tatbestand der höheren Gewalt subsumiert werden können. § 7.1 des EFET Standardvertrages definiert höhere Gewalt als jedes Ereignis, das diejenige Partei, die sich auf höhere Gewalt beruft (die „Betroffene Partei“) auch durch billigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht voraussehen und verhüten konnte, und das es der Betroffenen Partei unmöglich macht, ihre Liefer- oder Abnahmepflichten aus einem Einzelvertrag zu erfüllen.

Die Rechtsprechung versteht unter höherer Gewalt ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist (BGH, Urteil vom 22. April 2004 – III ZR 108/03). Die Bundesnetzagentur sieht die Abschaltung aufgrund einer behördlichen Anordnung bei unmittelbarer Einwirkung von Gefahren, zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, soweit die Ursache dieser Anordnung außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Netzbetreibers liegt sowie Krieg als Regelbeispiele für höhere Gewalt an. Die Regelungen des § 7 des EFET Standardvertrages würden damit auch im Fall des Eingreifens des Notfallplans Gas Anwendung finden, soweit eine Partei aufgrund von entsprechenden Maßnahmen oder Verfügungen der Lastverteiler oder Netzbetreiber ihren Leistungspflichten nicht mehr nachkommen kann.

UPDATE: Ausrufung der Frühwarnstufe am 30. März 2022

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen und die Europäische Kommission darüber informiert. Hintergrund ist die Ankündigung Russlands, die Bezahlung der Gasimporte nur noch in Rubel zu akzeptieren.

Mit der Ausrufung der Frühwarnstufe ist ein Krisenteam zusammengetreten, das sich aus Vertretern der Fernleitungsnetzbetreiber, Marktgebietsverantwortlichen und der Bundesländer zusammensetzt. Der Vorsitz des Krisenteams wird vom BMWK wahrgenommen, der stellvertretende Vorsitz liegt bei der Bundesnetzagentur.

Auf der Frühwarnstufe stellen Gasversorgungsunternehmen weiter die Versorgung sicher. Fernleitungs- und Verteilernetzbetreiber ergreifen netz- und marktbezogene Maßnahmen nach §§ 16, 16a EnWG, um Gefährdungen oder Störungen des Gasversorgungssystems zu beseitigen. Zudem geben die Fernleitungsnetzbetreiber in Abstimmung mit den Marktgebietsverantwortlichen tägliche schriftliche Lageeinschätzungen an das BMWK. Gasversorgungsunternehmen sind verpflichtet, das BMWK bei der Lagebewertung zu unterstützen.

Auch Italien und Lettland haben bereits die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen.

(14. März 2022, Update vom 30. März 2022)