EuGH-Generalanwalt plädiert für mehr Macht der Bundesnetzagentur

Es geht um die Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur (BNetzA) von allen öffentlichen Stellen sowie die Unabhängigkeit der Übertragungsnetzbetreiber zur Gewährleistung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs. Nach Ansicht des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof (EuGH) Pitruzzella verstößt Deutschland gegen die EU-Richtlinien 2009/72/EG und 2009/73/EG, die die Schaffung eines offenen und durch Wettbewerb geprägten Elektrizitäts- bzw. Erdgasbinnenmarkts bezwecken soll und hierzu die Unabhängigkeit der BNetzA und eine umfassende Entflechtung verlangt.

Mit den am 14. Januar 2021 veröffentlichten Schlussanträgen folgt der Generalanwalt vollständig der Auffassung der EU-Kommission, die bereits im Februar 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet hat. Das Verfahren betrifft im Wesentlichen zwei Umsetzungsdefizite:

Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur

Deutschland hat nach Auffassung der EU-Kommission sowie des Generalanwalts Pitruzzella die Vorschriften über die Befugnisse und Unabhängigkeit der deutschen Regulierungsbehörde – der BNetzA – in defizitärer Weise ins deutsche Recht umgesetzt. Insbesondere verfüge die BNetzA durch die maßgebliche Regelung in § 24 EnWG nicht über eine uneingeschränkte Ermessensfreiheit bei der Festlegung der Netztarife und anderer Bedingungen für den Zugang zu Netzen und Regelenergiedienstleistungen, da zahlreiche Aspekte der Festlegung dieser Tarife und Bedingungen weitgehend in den nach dieser Vorschrift zu erlassenen Netzzugangs- und Netzentgeltverordnungen der Bundesregierung geregelt würden. Insoweit würden der Regierung durch § 24 EnWG Befugnisse in einem Bereich verliehen, der nach dem Willen des Richtliniengebers ausschließlich der nationalen Regulierungsbehörde vorbehalten sei.

Art. 35 Abs. 4 RL 2009/72/EG und Art. 39 Abs. 4 RL 2009/73/EG verpflichteten die Mitgliedsstaaten dazu, die Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden zu gewährleisten und darüber hinaus sicherzustellen, dass diese ihre Befugnisse unparteiisch und transparent ausübten. Die nationalen Regulierungsbehörden müssten bei der Wahrnehmung ihrer Regulierungsaufgaben und -befugnisse ihre Entscheidungen selbstständig und alleine auf der Grundlage des öffentlichen Interesses treffen können und dürften insbesondere keinen Weisungen öffentlicher oder privater Stellen unterworfen sein.

Die nationalen Regulierungsbehörden seien nach Art. 37 Abs. 1 Buchstabe a und b RL 2009/72/EG und Art. 41 Abs. 1 Buchstabe a und b RL 2009/73/EG dafür zuständig, das ordnungsgemäße Funktionieren des Systems insgesamt zu gewährleisten. Dafür sollten sie die Möglichkeit haben, die Tarife oder die Tarifberechnungsmethoden auf der Grundlage eines Vorschlags der Übertragungsnetzbetreiber oder des/der Verteilungsnetzbetreiber/s oder auf der Grundlage eines zwischen diesen Betreibern und Netznutzern abgestimmten Vorschlags festzusetzen oder zu genehmigen.

Die Mitgliedsstaaten hätten zwar im Hinblick auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie das Recht, über die Organisation und Struktur ihrer nationalen Regulierungsbehörden zu bestimmen Auch dürften die Mitgliedsstaaten „allgemeine politische Leitlinien“ der Netzregulierung vorgeben. Dabei seien jedoch die in den Richtlinien 2009/72/EG und 2009/73/EG festgelegten Ziele und Pflichten sowie die in den Richtlinien festgelegten Zuständigkeitsbereiche zu beachten. Indem die Regierung durch § 24 EnWG ermächtigt werde, durch Rechtsverordnung die Bedingungen für den Netzzugang sowie die Festlegung der Übertragungs- und Verteilungstarife zu bestimmen, werde nach Auffassung des Generalanwaltes die ausschließliche Zuständigkeit der Bundesnetzagentur in diesem Bereich tangiert und ihr Ermessensspielraum in unzulässiger Weise begrenzt.

Verstöße im Hinblick auf vertikal integrierte Übertragungsnetzbetreiber

Deutschland hat nach Auffassung des Generalanwalts außerdem mehrere Anforderungen an die Entflechtung der unabhängigen Übertragungs- und Fernleitungsnetzbetreiber nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt.

So sei der Begriff des „vertikal integrierten Unternehmens“ mangelhaft in das deutsche Recht übertragen worden. Die in § 3 Nr. 38 EnWG enthaltene Definition von vertikal integrierten Unternehmen schließe in unzulässiger Weise Aktivitäten außerhalb der Europäischen Union aus. Die Definitionen in Art. 2 Nr. 21 RL 2009/72/EG und Art. 2 Nr. 20 RL 2009/73/EG sehen hingegen keine geographische Beschränkung vor. Wortlaut und Kontext der Richtlinienbestimmungen legten nach Ansicht des Generalanwalts nahe, dass der Anwendungsbereich der Definition nicht nur auf in der Union ausgeübte Tätigkeiten beschränkt werden dürfe. Dafür spreche auch das Ziel, eine wirksame Trennung des Netzbetriebs von der Erzeugung von Elektrizität oder der Gewinnung von Gas und der Versorgung mit diesen beiden Energieerzeugnissen sicherzustellen.

Ferner stünden die Vorschriften über die Unabhängigkeit des Personals und der Verwaltung des Übertragungsnetzbetreibers nicht vollständig mit den Richtlinien im Einklang. § 10 Abs. 2 und 6 EnWG schränkten die Tragweite der Bestimmungen von Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien in unzulässiger Weise ein. Nach dieser Vorschrift dürften Führungskräfte und/oder Mitglieder der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers sowie alle anderen in Absatz 8 genannten Personen während bestimmter Karenzzeiten (3 Jahre oder 6 Monate vor ihrer Ernennung) im Wesentlichen keine Berufs- oder Geschäftsbeziehungen zu dem vertikal integrierten Unternehmen, einem seiner Unternehmsteile oder seinen Mehrheitsanteilseignern unterhalten haben. Hingegen beziehe sich die Regelung des § 10 Abs. 2 und 6 EnWG anders als die Richtlinienvorschrift allein auf das Personal der im Energiebereich tätigen Teile des vertikal integrierten Unternehmens. Diese in der Richtlinienvorschrift nicht vorgesehene Einschränkung des Anwendungsbereichs gefährde nach Auffassung des Generalanwalts die volle und effektive Unabhängigkeit des vertikal integrierten Übertragungsnetzbetreibers.

Schließlich bemängelt der Generalanwalt die mangelhafte Umsetzung des Art. 19 Abs. 5 der Richtlinien. Die dort genannten Bestimmungen verböten eindeutig sowohl den Personen der Unternehmensleitung und/oder den Mitgliedern der Verwaltungsorgane als auch den Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers das Halten von Beteiligungen an Unternehmensteilen des vertikal integrierten Unternehmens. Die deutsche Umsetzungsvorschrift des § 10c Abs. 4 EnWG gelte hingegen nur für die von der Unternehmensleitung des Übertragungsnetzbetreibers erworbenen Anteile. Um die volle und effektive Unabhängigkeit der Übertragungsnetzbetreiber sicherzustellen, bedürfe es einer weiten Auslegung des Verbots des Haltens von Beteiligungen an dem vertikal integrierten Unternehmen. Eine einschränkende Umsetzung dieses Verbots, wie es der deutsche Gesetzgeber vorgenommen habe, sei daher nicht zulässig.

Wie geht es weiter?

Das Urteil des EuGH steht noch aus, das letzte Wort ist in dieser Sache noch nicht gesprochen. In den meisten Fällen folgt das Gericht jedoch den Empfehlungen seiner Generalanwälte. Sollte dies auch hier der Fall sein, stünde das gesamte deutsche Energieregulierungsrecht vor eine grundlegenden Umwälzung und Machtverschiebung. Bundestag, Bundesrat und Bundeswirtschaftsministerium müssten Kompetenzen abgeben, die BNetzA würde noch mächtiger werden. Der Präsident der BNetzA, Jochen Homann, fürchtet sich nach eigener Aussage beim digitalen Energiegipfel des „Handelsblatts“ nicht vor mehr Verantwortung. Das würde Auswirkungen auf den Lobbyprozess bei künftigen Änderungen des Regulierungsrahmens haben. Auch der Rechtsschutz gegen Entscheidungen der BNetzA würde sich erheblich ändern. Die BNetzA würde weniger an den teils sehr detaillierten Vorgaben des nationalen Gesetzgebers gemessen werden, sondern an den Vorgaben des Europäischen Rechts. Es ist damit zu rechnen, dass der EuGH noch in diesem Jahr entscheidet. Es bleibt spannend.

(18. Januar 2021)